Rezension zu Arno Schmidt: Aus julianischen Tagen. Teil 1: Berichte aus der Nichtunendlichkeitm

Betörend verstrickter Bildungstrumpf

So wie der Band die einzelnen Texte wild zusammenhakt, so erprobe ich mich jetzt an einer Sammelrezension über die Texte seines ersten Teilstücks. Gemeinsam ist den Texten eine wissenschaftshistorische Perspektive, die beeindruckend abwegige Lösungen für Probleme bereithält, die wir heute wohl lieber, falls sie überhaupt jemals auftauchen, dem Internet überlassen. Ein Vulkanausbruch, Mondkarten, die Eroberung Sibiriens, der julianische und der republikanische Kalender, eine Flat-Earth-Theorie und das Buch Mormon sind die Gegenstände der Untersuchung, und sie alle werden mit großer Akribie und einer wohlwollenden Faszination untersucht, wobei der Glaube an die Überlegenheit der zeitgenössischen Wissenschaft den ein oder anderen Seitenhieb abbekommt.

Wenn Schmidt in der Titelerzählung den julianischen Kalender erklärt und dazu die Tabellen bereitstellt, um von beliebigen historischen Daten beispielsweise den Wochentag oder auch die Mondphase zu bestimmen, beeindruckt nicht nur sein Elan, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der er Beispiele für die Relevant seines Treibens erbringt. An dem Tag, an dem Werther über den Mondschein fabuliert, war überhaupt kein Mond zu sehen! Goethe, ein astronomieunkundiger Märchenerzähler!

Die Leichtigkeit, in der der Erzähler mit den Zahlen jongliert, kann den rechenmüden Leser schon sehr beeindrucken, für die Pointe jedoch wird auch auf ein literarisches Argument zurückgegriffen. Der Mensch kann, so wird uns gewissenhaft vorgerechnet, während seines Lebens gerade einmal drei- bis fünftausend Bücher lesen, unter normalen Bedingungen. Das klingt tatsächlich nicht sehr viel. Der einzelne Mensch ist klein, begrenzt und lächerlich, diese Erkenntnis schlägt uns auch aus anderen Texten entgegen; die Systeme aber, die vergangene Generationen entwickelten und die wir oft nur müde belächeln, sind ihrerseits zum Teil erstaunlich leistungsfähig.

Selten habe ich so viel unnützes Zeug gelernt und war gleichzeitig so fasziniert davon. Von Arno Schmidt sollte man definitiv mehrere Bücher auf die Liste schreiben. Seine Gelehrsamkeit wirkt heutzutage vollkommen befremdlich, ja anmaßend, wo sie uns doch wie eine müde Kopie eines auf gut Glück geklickten Wikipediaartikels erscheint. Aber gerade diese historische Differenz, mit der eine Gegenwart verächtlich auf eine Vergangenheit zurückblickt, wird von Schmidt ja allumfassend dekonstruiert.

Foto von Alexander Andrews auf Unsplash.