Rezension zu Wolfram Lotz: Der grosse Marsch
Alles drin, nicht zu viel
Bestimmt mag Wolfram Lotz keine Schubladen für seine Stücke, und schon allein mit dieser Ansicht passt Der grosse Marsch wundervoll in die Schublade des postdramatischen Theaters. Um aber die Skeptiker nicht zu verprellen, denn dazu besteht überhaupt kein Anlass, sollte man vielleicht lieber betonen, dass Lotz hier alle nur denkbaren Formen des Theaters (sprich: viele) in brillanter Leichtigkeit in- und gegeneinander ausspielt.
Das Stück ist in einen Prolog und drei Teile gegliedert, die Regieanweisungen sind verhältnismäßig umfangreich, präzise, aber auch oft lustig oder grenzen ans Absurde. Durch die drei Teile führt als Moderatorin eine Schauspielerin, der eine frühstücksfernsehhafte Interviewmanier in den Mund und die Gesten gelegt wird, mit welcher sie ein heterogenes Feld von Gästen zum Sprechen bringt.
Den Einstieg macht eine selbstreferentielle Betrachtung über das Theater im Allgemeinen und das vorliegende Stück im Besonderen, zu welchem eine Figur namens Wolfram Lotz bescheiden Stellung nimmt. Der Rest des ersten Teils ist dem politischen Theater gewidmet, die Unentscheidbarkeit zwischen Echtheit, Nachahmung, Zitat und Persiflage ist auch in den anderen Teilen stets Programm, im ersten geht es also (oberflächlich) um die RAF, mit Ackermann und Arbeitgeberpräsident Hundt zu Gast (jeweils den echten natürlich), an denen die Schauspielerin voll politischem Ehrgeiz, ein bisschen taub, kein grünes Haar lässt.
Der zweite Teil widmet sich dem Regietheater und sozialdokumentarischen Formen, der Autorfigur wird ein Zuschauerplatz angewiesen und eine Regisseurfigur übernimmt, natürlich, die Regie. Ein Buffet ist hergerichtet und zu Gast geladen sind Sozialhilfeempfänger, die sogenannte Unterschicht, deren Bild die Beteiligten trotz Bemühungen nicht entfliehen können. Die Regieanweisungen bezeugen köstliche Ironie, wenn sie verlangen, echte Sozialhilfeempfänger auf die Bühne zu holen und ihnen, falls sie noch nicht echt genug aussehen, ein paar alte Jogginghosen oder Bomberjacken aus dem Theaterfundus anzuziehen. In einem Moment interaktiver Überdrehtheit prügelt am Ende der Szene, laut Regieanweisung, eine Gruppe mongoloider Kinder die Zuschauer*innen aus dem Raum, das Publikum tritt ab.
Im dritten Teil schließlich tritt bzw. fährt noch der schwerbehinderte Lyriker Felix Feu auf die Bühne sowie die Mutter des Autors, die jedoch beide von der Schauspielerin abgekanzelt werden. Es folgen mythische Figuren, Prometheus, die vorige Idee des „Echten“ fällt, Götter, Schicksal, Tod und ewiges Leben werden durchgespielt oder auch vorgeführt in jedem Wortsinn, bis schließlich in einem fulminanten Finale die Schauspielerin gegen die Regieanweisung des Autors aufbegehrt und dieser selbst sich mit unlesbarer Handschrift auf einem kleinen Zettel in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet. Ein rücksichtsloser Rundumschlag in die Theaterlandschaft, der gleichwohl als geschickt durchbrochene Unterhaltungsshow alles bietet, was man sich vom Theater wünschen kann.
P. S.: Außer ein bisschen mehr sprachlich dekonstruktive Ästhetik, ein bisschen schade, dass man fast alle Figuren hier von Anfang an nicht ernst nimmt und durch die postdramatische Allerwartung nichts mehr richtig kippt, vom Glauben in den Unglauben oder was wohin auch immer.
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Foto von Joseph Chan auf Unsplash