Rezension zu Thomas Meinecke: Selbst

Polyphone Traumwelten

Meinecke weiß bestens, was er da tut, wenn er sich als Figur in den Freundeskreis seiner jüngsten Romanheld*innen einschreibt und ein breites Stimmengeflecht aller Facetten von Weiblichkeit und Androgynität aufwirft. Mit bunten Versatzstücken vom neunzehnten Jahrhundert bis in die Popkultur und Philosophie der Gegenwart spiegelt er sein eigenes Werk und Wirken; das dicke Buch langweilt und verheddert sich ganz schön, aber ich kann es ihm einfach nicht übelnehmen.

Ich nehme Eindrücke mit von Bettina von Arnim und dem nach ihr benannten deutsch-kommunistischen Settlement im Texas der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, von neueren, die geschlechtergrenzen sprengenden Performances in der Mode-, Musik- und Videokunstwelt, einer anderen, nämlich weiblichen Theorie des Schreibens und einer gelungenen Reflexion eines (oder vieler) gelungenen/r Selbst(e).

Ich verstehe das Prinzip und nur an meiner persönlichen Be- und Empfindlichkeit hängt der Widerspruch, dass hier doch alles viel zu konfliktlos glattgebügelt wird. Überall greifen die Interessen und das Begehren dieses Freundeskreises aus Models, Redakteur*innen, Fotograf*innen, Doktorand*innen und Autor*innen ineinander, das ganze Buch besteht eigentlich nur aus Musik, Filmen und Texten, die sie allseits begeistert hin- und herschieben, in den wenigen persönlichen Gesprächen werden meistens einzig Zärtlichkeiten ausgetauscht, die nicht an die Freundin kommunizierte Dreiecksgeschichte des Boyfriends mit der Mitbewohnerin bleibt unproblematisch ungelöst und auch die Frage nach Alters- und Wissensfortschritten des Autors und damit zusammenhängenden Machtverhältnissen bleibt völlig unberührt.

Wenn die Feministin ihren nichtpenetrierenden, blowjobunerfahrenen, hyperandrogynen Modelfreund einfach mal wieder in die männliche Schublade steckt, wird das widerstandslos hingenommen und unter dem nächsten von differance wimmelnden Theorieexkurs versenkt, es ist wirklich eine traumhaft schöne Hippiewelt, in der sich alle liebhaben und es unter Theoretiker*innen weder Streit noch Missverständnisse gibt.

Diesen Vorwurf sollte ich nicht dem Roman machen, sondern meiner Welt und psychischen Konstitution: Dass diese Welt weder so friedvoll, schön noch produktiv ist wie die im Roman und dass ich Glauben und Hoffnung verloren habe, kann ich ja mal mit einer Therapeutin klären. Den Einfall aber, dass es überhaupt die Idee einer guten Welt noch geben könnte, verdanke ich Thomas Meinecke. Vielleicht nehme ich mir ein Beispiel daran.

Foto von Rishabh Dharmani auf Unsplash