Rezension zu Thomas Brasch: Rotter Und weiter

Unbefriedigende Zeitraffgier

Mit einem Dutzend Stationen spult Thomas Brasch das Leben Rotters in seinem Antagonismus zu den wilden Wechseln der fünfzig Jahre Zeitgeschehens in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ab.

Rotter ist ein anführender Mitläufer, es beginnt mit einer Fleischerlehre, dann wird erst mal antisemitisch agitiert, geheiratet und für Hitler in den Zweiten Weltkrieg gezogen, anschließend opportunistisch die Kehrtwende vollzogen und in Konglomeraten und Kolchosen mit Genossen und Kadern die DDR, das heißt nacheinander eine Talsperre, ein Eisenhüttenwerk und ein Erdölkombinat, aufgebaut und im ständigen Neuanfang seine Identität völlig eingebüßt, bis er literally (durch Abhacken der Gliedmaßen und Ersetzung durch Holzstücke und Seile) zur Marionette wird.

Dann gibt es noch ein bisschen Nachspiel mit Geistern, dem Tod undsoweiter, die schwer umsetzbaren Regieanweisungen sind ja auch ganz witzig, aber im Kern folgt das Stück einer ganz und gar altertümlichen, jedoch keineswegs antiken Architektur, alles ist so greifbar und doch ein bisschen metaphorisch, der Mensch als Spielball der Gezeiten und irgendwelcher höheren Mächte, die historischen Abgründe der DDR und die Kontinuität des Nationalsozialismus, seelenlose Zombies singen FDJ-Lieder, ja, das war damals bestimmt mutig, sowas zu schreiben, hat heute aber jeden Reiz verloren.

Diese ganze Arbeiterscheiße mit unfähigen Vorgesetzten, Verwirklichungsdrang und Streik kann mich mal gernhaben, immerhin würde das die einzig interessante Figur Lackner, ein „asozialer“ und Knastbruder, so bestätigen, dem es aber im Leben auch nicht besser ergeht mit seinem isolierten Nihilismus: alle sterben.

Sprachlich wird mal ein bisschen gereimt, dann wieder mit nationalsozialistischem Vokabular umhergeworfen, auch einiges an Klassikern zitiert und stumpfe Selbstreflexion/Durchbrechung der vierten Wand betrieben, ach, seht euch mein Drama an, wir alle spielen Theater!, aber einen richtigen Sound sucht mensch vergebens.

Das ist ein schönes Stück, um es im Deutsch-Leistungskurs auf das Verhältnis von Individuum und gesellschaftlichem Wandel abzuklopfen und Lieblingssätze für das Poesiealbum zu suchen. Der Band stellt dem Stück zusätzlich Tagebuchnotizen und Inszenierungskonzepte zur Seite, aus denen die Einserschüler bestimmt noch tolle genealogische Vermutungen herzuleiten wissen. Am Ende geht alles von vorne los.