Rezension zu Thomas Bernhard: Verstörung

Widerspruch und Alltag

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil berichtet der Ich-Erzähler, ein 21jähriger Montanistikstudent, von einem Besuch bei seinem Vater, den er auf dessen Tätigkeit als Landarzt im Steiermärkischen Gebirge von Fall zu Fall begleitet. Die aufeinanderfolgenden Arztbesuche bei unterschiedlichen Patient*innen zeigen nicht nur alle möglichen physischen und psychischen Gebrechen, sondern geben einen tiefen Einblick in die soziale Struktur der Gegend: die Quirks, Spleens und materiellen Nöte der Bevölkerung. Die Schwester des Ich-Erzählers hat gerade einen Selbstmordversuch überlebt, einem Dorflehrer ist selbiger nach einer pädophilen Grenzüberschreitung geglückt, im Gasthaus wurde die Wirtin totgeschlagen undsoweiter. Vater und Sohn arbeiten sich den Berg hinan, auf dessen Gipfel die Burg Hochgobernitz thront, in welcher der Fürst Saurau zurückgezogen sein Dasein fristet.

Der Fürst ist der zweite Teil des Buches überschrieben und hier wechselt die sowieso schon mäandernde Satzstruktur in die Wiedergabe weitläufiger Monologe des Fürsten hinüber, die nur selten durch kurze Einschübe wie „sagte der Fürst“ oder perspektivisch verworrene Passagen indirekter Rede unterbrochen werden. Der relativ raschen und abwechslungsreichen Handlungsstruktur des ersten Teils setzt sich nun ein monolithischer Block entgegen, in dem der Fürst über sein Leben, seine Familienverhältnisse, geistige Krankheiten und seine „Philosophie“ doziert, welche sich größtenteils als rekursives Gewäsch in das Klippengestein des gesunden Geistes hineinfrisst. Eine narzisstische Störung und stellenweise psychotische Andeutungen über Geräusche und Stimmen in seinem Kopf lassen eine psychische Erkrankung des Fürsten virulent werden, obwohl diese durch seine dauernd in Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten sich verlierende Redeweise nie ganz diagnostisch dingfest zu machen ist.

Ein zentrales wiederkehrendes Moment stellt der Verbleib des herrschaftlichen Anwesens mit großen Ländereien und Forst- und Landwirtschaft nach dem Tod des Fürsten dar, welches er seinem in London studierenden Sohn zuspricht, obwohl er davon überzeugt ist, dass dieser das Erbe verkaufen, liquidieren, vernichten wird. Auch der Selbstmord seines Vaters und die Antizipation seines eigenen Selbstmords finden zunehmend Eingang in den fürstlichen Monolog. Die Gegensätze der unteren gegen die oberen (auf dem Berg wohnenden) Menschen, der körperlichen gegen die geistigen, auch der weiblichen (Schwestern) gegen die männlichen werden gleichermaßen umfassend wie unfassbar durchdekliniert, Studienthemen angerissen und wieder verworfen, bis sich auf den letzten Seiten, der Besuch ist inzwischen beendet, der tiefgreifende Einfluss der sogenannten geisteszerstörenden Philosophie des Fürsten auf den Ich-Erzähler in seiner Niederschrift andeutet.

In der ausgeführten Erzählung davon, wie der Fürst nacheinander all seine Schwestern und Töchter verdächtigt, sein in der Küche gefundenes Tagebuch gestohlen und gelesen zu haben, bevor er doch zugeben muss, es selbst dort liegen gelassen zu haben, tritt nicht nur das psychotische Element noch einmal deutlich in Erscheinung, sondern es wird auch die Alltagsuntauglichkeit des Fürsten offenbar, sowie der Widerspruch dieses geistigen, aber doch beinahe ganz banalen Krankheitsfalles zu den körperlichen und materiellen oder immerhin handfest depressiven Erkrankungen der „unteren“ Bevölkerung.

Obwohl grandios ausgeführt, gibt der sinnfrei dozierende Ton des Fürsten das von ihm Gesagte aber doch allzu leicht dem Vergessen anheim, häufig ertappte ich mich beim Lesen in einem Modus, der ganze Seitenlängen als eloquenten Bullshit klassifiziert und gar nicht mehr richtig achtgeben will. Mit etwas gutem Willen ließe sich das aber auch quod erat demonstrandum als der ermüdenden, zermürbenden, geisteszersetzenden Wirkung der Saurauschen Philosophie geschuldet begreifen.

Sicher habe ich auch diesen Text bestimmt längst schon an der Uni gelesen, das ist ja kaum noch erwähnenswert, so häufig stellt sich ein derartiges Déjà-vu-Gefühl ein, alles schon mal dagewesen, aber alles vergessen, einer eigenen zwischenzeitigen Verrücktheit geschuldet, bittesehr, geschenkt, ich weiß auch nicht, was dieses Mal von der Lektüre übrig bleiben sollte, mit der Niederschrift des Inhalts verflüchtigt er sich ja bereits aus meinem Geist, aber immerhin diese wenigen Seiten zum Text dürften noch einige Zeit überstehen.