Rezension zu Thomas Bernhard: Korrektur

Da ist der Wurm drin

Roithamer hat sich umgebracht und der Ich-Erzähler kehrt in der Dachkammer des gemeinsamen Freundes Höller, in welcher Roithamer seine wichtigsten Denk- und Arbeitsphasen absolviert hatte, ein, um den Nachlass des Selbstmörders zu sichten und zu ordnen. Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, von denen der erste der Ankunft des Ich-Erzählers im Haus und in der Dachkammer gewidmet ist, während der zweite seiner Tätigkeit des Ordnens und Sichtens folgt und im Wesentlichen die Inhalte des Roithamerschen Nachlasses wiedergibt.

Höllers Haus steht an der Aurachengstelle, Roithamer ist in Altensam und der Ich-Erzähler in Stocket aufgewachsen, befinden sich also im Einzugsgebiet des Kobernaußerwaldes, welcher für die urige, eigentümliche und mitunter etwas zurückgebliebene Lebensweise und Art seiner Bewohner*innen bekannt ist (sein könnte), was jedoch nicht explizit thematisiert wird. Vielmehr präsentiert der Ich-Erzähler Roithamer und sich selbst als weltgewandte Wissenschaftspersonen von einigem Rang in Cambridge, die in abstrakt bleibenden und heterogenen, hauptsächlich naturwissenschaftlichen Arbeiten zu brillieren scheinen.

Roithamers wohlhabendes Elternhaus mit Ländereien und Land- und Forstwirtschaft und die darin schwelenden Klassenkonflikte nehmen eine zentrale Stellung in einem selbstmörderischen Vexierspiel ein, so werden Kindheitserinnerungen wach, wie Roithamer eher den Kontakt zur Dorfbevölkerung suchte, statt sich der höfischen Isolierung im Elternhaus zu fügen, zugleich aber tritt in seinen Aufzeichnungen ein schwieriges Verhältnis zur aus ebendiesen dorfbürgerlichen Verhältnissen stammenden Mutter zutage, die vornehmlich als herrschsüchtig, verschwenderisch und lieblos charakterisiert wird, während Roithamer die Nähe des Vaters (die allerdings auch nicht erreichbar ist) sucht.

In Sprüngen durch die Lebensabschnitte bekommen wir mit: Roithamer, eine Schwester, zwei Brüder, allesamt nur zum Zweck der Erbfolge produziert und unter der dazu eingegangenen Ehe bald leidend, bewältigt die Schule entgegen der Geschwister vor Ort, setzt sich dann jedoch ins Ausland ab, hält nur zur Schwester ehrlichen Kontakt, macht Karriere und wird dann aber, angeblich aus Zerstörungslust, vom Vater als Alleinerbe eingesetzt (die Brüder kamen zu sehr nach der ungeliebten Mutter). Nach dem Tod beider Eltern verwendet er das Geld für den Bau eines „Kegels“ als Wohnung für die Schwester in der Mitte des Kobernaußerwaldes, ein Baukunstprojekt, das offenbar viele Millionen verschlingt, aber tatsächlich innerhalb von sechs Jahren von der Idee bis zum fertigen Gebäude verwirklicht wird. Die Schwester, von der Überraschung des Projekts (und seines Erfolgs) überwältigt, stirbt im Angesicht des Erhabenen.

Roithamer, auf eine lange Kette von suizidalen Onkeln und Vettern zurückblickend, hängt sich ohne große Depression, eher als die titelgebende Korrektur (das Leben als Fehler) auf einer Lichtung zwischen Elternhaus und Dorf auf. Danach beginnt die gegenwärtige, zurückblickende Handlungsebene, der Ich-Erzähler kommt im Höllerhaus an und begegnet einer schweigsamen Familie in ihrer seltsamen Immobilie direkt über der tosenden Flussenge und vollzieht die für Bernhard typischen prokrastinativen Muster des Hin- und Hergehens, Hin- und Herdenkens, er sieht aus dem Fenster, verliert sich in psychotischen Schleifen und Wahnvorstellungen, bleibt die halbe Nacht lang wach und projiziert den eigenen Zustand auf den Gastgeber, produziert eine große innere und äußere Unruhe (stößt mitten in der Nacht ein Bücherregal um). Schließlich kippt er das in einem Gebirgsrucksack mitgebrachte Manuskript Roithamers unwirsch auf den Boden und verleiht mit dieser Übersprungshandlung dem Folgenden eine gewisse Unwägbarkeit.

Wie bereits im vorangestellten Motto geht es in vielen Perspektiven des Romans um Gleichgewichtszustände und deren Kippen. Immer wieder werden die Seiten gewechselt, jede Chance ist auch eine Krise, der Kegel bringt die Schwester um, das bis zuletzt luxuriös erschienene Elternhaus entpuppt sich als beinahe unwohnbar von Holzwürmern zerfressen (jaja, eine Metapher bestimmt), der Hass Roithamers auf die Jagd, aber seine Schießfertigkeit auf dem Dorffest, das Verschenken der Papierrosen an ein unbekannt bleibendes Mädchen, die Lichtung als Selbstmordort.

Die Länge der Sätze und ihre eigenwillige Verschachtelung schien mir zu Beginn alle anderen Werke Bernhards zu übertreffen, sorgfältig werden auch hier Gleichgewichte produziert, gewogen und gekippt und es brauchte bestimmt zweihundert Seiten, bis ich mich mit der Nichtreproduzierbarkeit des Satzanfangs im Geiste habe abfinden können. Wie so oft erschien mir am Ende alles wohlbekannt, aber das ist an den zahlreichen Berührungspunkten zum Autor in der eigenen Bildungsgeschichte nicht außergewöhnlich. Zu spät in deiner Zeit, mein lieber Ich-Erzähler.

Foto von Paul Engel auf Unsplash