Rezension zu Thomas Bernhard: Heldenplatz

Überall Nazis

In der Professorenfamilie Schuster hat sich der alte Vater und Bruder aus dem Fenster gestürzt. Das Stück begleitet die Stunden, die auf die Beerdigung folgen, in drei Akten.

Den ersten Akt bestreiten die Wirtschafterin und das Hausmädchen mit der Vorbereitung des Essens und Haushaltstätigkeiten, die angesichts der bevorstehenden Räumung der luxuriösen Wohnung am Heldenplatz und des Todes des Hausherren keinen rechten Sinn ergeben wollen. Hemden zusammenlegend, Schuhe putzend, rekapitulieren die beiden, bzw. wortführend die Wirtschafterin, die Verhältnisse der Familie.

Die Fluchterfahrung der jüdischen Familie nach England während des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Entwurzelung, die auch nach der Rückkehr nach Wien Ende der 50er Jahre nicht aufhören sollte, bildet vielleicht das zentrale Thema, wird jedoch bernhardtypisch durch Aspekte der Geistesarbeit, des Großbürgertums, sowie der Kunst- und Musikbetrachtung ergänzt. Auch häusliche Gewalt, körperliche und seelische Erkrankungen werden in einer ebenso verdichteten wie ausufernden Sprache in Szene gesetzt.

Im zweiten Akt begleiten die beiden Töchter des Verstorbenen dessen (immer schon) herz- und lungenkranken Bruder durch den Volksgarten auf dem Weg zur Wohnung. In den Schwestern spiegelt sich sowohl das Verhältnis der wortführenden Wirtschafterin zum schweigsamen Hausmädchen als auch das des „gesunden“ Selbstmörders zu seinem kranken Bruder. Selbiger bekräftigt die Legitimität des Suizids und hat selbst mit der Welt bereits abgeschlossen, während Anna, die wortführende Schwester, auf der Jagd nach ihrem eigenen Vorteil um ein Eingreifen des Onkels in Straßenbau- aka Besitzangelegenheiten buhlt.

Der dritte Akt führt die bisherigen Figuren mit der Ehefrau und dem Sohn des Toten sowie einem Kollegen samt Gattin und einem wissenschaftlichen Verehrer zusammen. Die Gespräche verlaufen einhellig, wenn auch kaum dialogisch, persönliche Fehler und ganze Listen, wer was alles hätte besser machen können, werden hin- und hergewälzt, während in der Mutter/Ehefrau langsam die posttraumatische Belastungsstörung hochkocht, die sie in dieser Wohnung immer wieder in die Geräuschkulisse von Hitlers Einzug auf den Heldenplatz versetzt, bis die alte Frau schließlich reglos auf die Tischplatte stürzt.

Das Stück zeichnet sich aus durch die fast vershaft in Zeilen gefasste Sprache, die unmerklich zwischen alltäglicher Gebrauchssprache und künstlerischer Verdichtung moduliert. Durch die zahlreichen Nebenstränge unter Spannung gesetzt, schwebt die Handlung mehr als sie fließt, gerade die Fülle an Prämissen und die Knappheit der Konklusionen, diese fast enttäuschende Nüchternheit, stellen einmal mehr Bernhards Geschick heraus.

Ganz so sicher ist man sich nie, ob diese auf ganz Österreich geworfene Nazihaftigkeit einem haarscharfen Auge für die ab den 90er Jahren sich bis heute noch einmal zuspitzenden politischen Entwicklungen geschuldet ist, oder ob nicht vielmehr die sogenannte Übertreibungskunst von damals vor den heutigen Verhältnissen nicht längst kapitulieren müsste: „Aber die Welt besteht ja nur aus absurden Ideen!“

Foto von Arno Senoner auf Unsplash