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Rezension zu Thomas Bernhard: Frost

Anatomie der Seele

Ein Famulus erhält vom Assistenzarzt einen Auftrag: Er möge dessen Bruder, einen Kunstmaler, nunja, beobachten. Die Brüder pflegen seit über zehn Jahren keinen Kontakt mehr, das Verhältnis ist durch unbestimmte Ursachen zerrüttet, der Maler aber ist krank und sein Bruder, der Arzt, weiß ihm und sich selbst nicht anders zu helfen, als den jungen Famulus zu seinem Auftrag abzustellen.

Der junge Mann tut, wie ihm geheißen, er fährt mit der Bahn von Schwarzau nach Weng, ein Dorf im Hochgebirge, wo der Maler in einem Gasthaus wohnt, und nimmt sich ebendort ein Zimmer. So einfach ist das, und sofort kommen sie ins Gespräch, die beiden Dauergäste, über die Verhältnisse im Haus, die Stammgäste und Durchreisenden, die Umgebung und die Landschaft. Ein richtiges Gespräch aber ist es nicht, es ist das Tagebuch des Famulus, in dem er seine Beobachtungen festhält, meist in Form langer Monologe des Malers, um den es ja geht. Der Maler macht aus seiner Krankheit kein Geheimnis, alles tut ihm weh, insbesondere aber der Kopf, er verabscheut die Welt, insbesondere die Menschen, der Gedanke an den Tod ist ihm ein guter Freund.

Sie gehen spazieren, die Umwelt fügt sich in das Bild, es ist kalt, verschneit, die Wege immer ähnlich, der Hohlweg, die Klamm, das Lärchenwäldchen, der Bach, unten die Eisenbahnstation mit den Zeitschriften, oben der Friedhof mit der Kapelle, irgendwo ein Armenhaus, eine Zellulosefabrik, ein Wasserkraftwerksneubau. Alles trostlos, kalt und irgendwie menschenfeindlich. So auch der Maler, er wollte sich mit den Kunstmenschen nicht mehr einlassen, hat seine Bilder verheizt, sich als Hilfslehrer verdingt und zu Grunde gerichtet und schließlich seinen Zustand als Irritation in der Welt akzeptiert, ja die Ungastlichkeit dieses Gasthauses geradezu gesucht. Mit feinen Sinnen hasst er alles, ohne es doch verurteilen zu wollen, die Männergeschichten der Wirtin, deren Mann wegen ihrer Aussage (und eines Totschlags) im Gefängnis sitzt, das vermutete Hundefleisch im Essen, die mangelnde Heizung, das Kartenspiel der Arbeiter und all die Nachwehen des Krieges und die Politik. Und das Hundegekläff.

Der Maler fristet seine Tage, lässt jedoch den Famulus, der sich als Jus-Student ausgibt, bereitwillig daran teilhaben. Er entfaltet ein kohärentes System seiner Stimmung, dessen Ausweglosigkeit den Famulus schleichend, aber dringlich in seinen Bann zieht. Diese Arbeit, die ja doch bloß ein Spazierengehen und Unterhalten ist, nimmt ihn gleichwohl völlig gefangen, er selbst entwickelt die Befürchtung, ja die Diagnose, der Maler könne die Kontrolle über seine Gedanken übernehmen; es sind diese kurzen, dezenten Passagen, in denen der Protokollant seinen Gegenstand aus den Augen lässt und nach dessen Wirkung auf die eigene Person fragt, die die eigentliche Entwicklung voran treiben.

Der Maler hingegen bildet von Anfang bis Ende einen monolithischen Block, er erfährt keine Widerrede, da ist gar kein Zwiegespräch, der Ich-Erzähler sagt so gut wie überhaupt nichts, die wenigen Dialoge mit anderen Figuren sind bloß gestelzte Höflichkeitsgespräche, ein Austausch findet nicht statt. Das beeindruckt an diesem Text, diese hermetische Starrheit, die präzise Sezierung eines Geisteszustands, die keine Heilungschancen offen lässt. Der Famulus erschöpft sich in seiner Aufgabe, in seinen Briefen an den Arzt setzt er die medizinische Bedeutsamkeit dieses Falles in Szene, bzw. in ein verstörendes psychiatrisches Vokabular der 60er Jahre, nehme ich an, es klingt keinen Deut analytischer, wissenschaftlicher oder freundlicher als die Ergüsse des Malers selbst. Am Ende jedoch schafft der junge Mann den Absprung, an der Famulatur und seiner Aufgabe sichtlich gealtert. Und der Maler, seines letzten Schülers beraubt, verliert sich in der Kälte.

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