Rezension zu Sarah Kane: Gesäubert

Das Gemetzel ist mir ein inneres

Es beginnt mit einer Überdosis. In zwanzig Szenen entfaltet Sarah Kane eine Landkarte psychischer und physischer Gewalt, die den 120 Tagen von Sodom wohl in nichts nachsteht. Die Örtlichkeiten sind in und vor einer Universität angesiedelt und farblich markiert, der weiße Raum, eine Krankenstation, der rote, eine Turnhalle, der schwarze, eine zu Peepshowkabinen umgerüstete Toilette und der runde Raum, die Bibliothek.

Es ist schwer, die Handlung oder auch nur die Figuren zu greifen, man könnte überall anfangen, aber kommt nie so recht zu einem stimmigen Gesamtbild. Im Mittelpunkt des Stücks steht die Absurdität. Wahrscheinlich gibt es sieben Personen, zumindest sind sieben Personen zu Beginn des Stücks vermerkt, darunter zwei Personenpaare.

Beginnen wir mit dem schwierigsten: Graham und Grace sind Geschwister. Graham stirbt zu Beginn an besagter Überdosis, nimmt am weiteren Handlungsverlauf aber ohne Erklärung immernoch Teil. Seine Schwester Grace identifiziert sich stark mit ihm, sucht nach dem Tod die Krankenstation auf und verlangt die Herausgabe seiner Kleidungsstücke. Dabei entwickelt sich zwischen Graham und Grace eine sexuelle Anziehung, die im Fortlauf der Handlung aber auch als Verschmelzung, Angleichung, Umwandlung gelesen werden kann. Grace übernimmt nicht bloß Grahams Kleidung, sondern auch seine Gedanken, unterzieht sich schließlich einer Geschlechtsumwandlung und ist zuletzt nicht mehr von Graham zu unterscheiden (sagt die Regieanweisung).

Das zweite Paar besteht aus den beiden Schwulen Carl und Rod, die ihre Beziehung aushandeln. Während der jüngere Carl von Treue bis in die Ewigkeit redet und Ringe tauschen will, forciert der 39-Jährige Rod einen Fokus aufs Hier und Jetzt. Unvermittelt geraten die beiden in ein absurdes Folterszenario, das die Versprechungen Carls auf eine harte Probe stellt, die er letztlich nicht besteht. Er verliert seine Hände und Füße, Rod verzeiht im jedoch (es war ein Du-oder-er-Spiel). Vor die gleiche Prüfung gestellt, wählt Rod den Schmerz für sich selbst, verliert daraufhin aber sein Leben.

Eine zentrale Rolle spielt Tinker. Er ist die am meisten präsente Figur und verkörpert Drogendealer, Arzt/Psychiater, Folterknecht, Beobachter und eine verzweifelte Privatperson, die nach Liebe sucht, in einem. Die Motivlage für seine Gräueltaten ist nebulös, er wirkt wie ein zynischer, brutaler Experimentator, der Menschen in die Drogensucht treibt, sie in der Psychiatrie gefangen hält, missbraucht und verstummelt. Er gebietet auch über die Stimmen, die in der Turnhalle ihre Opfer zusammenschlagen (sagt auch die Regieanweisung). Tinker, wörtlich der Bastler oder Pfuscher, lässt sich jedoch ebenso als internalisierter Teil des Bewusstseins lesen, das den Menschen als brutale Stimme des Gewissens zur Verantwortung oder auch als krankhafte Geistesstörung in den Abgrund zieht. In der Peepshow nähert er sich der dort tanzenden Frau an, erst verliebt, dann sexuell, schließlich die zwischen ihnen liegende Wand in einem Akt, vielleicht, wahrer Liebe durchbrechend. Ihr Name ist auch Grace, sie scheint jedoch eine andere zu sein.

Die letzte Figur ist Robin, eine Art Praktikant Tinkers, der anfangs Grahams, dann Graces Kleidung trägt, Bücher liest und verbrennt (er musste erst lesen und schreiben lernen) und sich schließlich an seiner/Graces Strumpfhose erhängt. Seine Figur wirkt unscheinbar, dumm und scheint im Text etwas unterzugehen, aber vielleicht hat auch gerade das einen Sinn.

So offensichtlich die Bezüge zu Psychiatrie und Seelenlandschaft auch gesät sein mögen, die Prozesse der Externalisierung des Bewusstseins und der Internalisierung materieller Gegebenheiten müssen im Stück immer wieder von Neuem hinterfragt werden. Die Doppelbödigkeit der Figuren, Orte, Handlungen und Reden schafft einen schier unendlichen Raum von Interpretationsmöglichkeit und befeuert den Antrieb des Vorstellungsvermögens ins Unbekannte. Erst im Laufe des Schreibens dieser Rezension beginne ich, eine Ahnung von der Kraft dieses Stücks zu erheischen, das mit Sicherheit noch so viel mehr hergibt.

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Foto von Alexander Grey auf Unsplash