Rezension zu Robert Walser: Geschwister Tanner

Nichts gelernt, aber es wird schon laufen

Die Erstausgabe dieses Romans erschien 1907, und es ist nicht bloß die Sprache, der man anmerkt, dass der technische Fortschritt sich zu beschleunigen beginnt, sich aber noch in keinem Weltkrieg niedergeschlagen hat. In achtzehn Episoden begleiten wir Simon Tanner von seinem einundzwanzigsten ins zweiundzwanzigste Lebensjahr, ein junger Mann auf der getriebenen, aber gewissermaßen erfolglosen Suche nach seiner Stellung in der Gesellschaft

Seine vier älteren Geschwister, drei Brüder und eine Schwester, geben Beispiele für Lebensentwürfe ab: Klaus, der kritische und stets besorgte Wissenschaftler, Kaspar, der Künstler mit Glück bei den Frauen, Hedwig, die Lehrerin auf dem kleinen Bergdorf. Simon probiert alles aus, er verdingt sich als Schreiber, Buchhändler, Diener, aber hält es nirgends lange aus. Er frönt dem Müßiggang, profitiert von seiner Offenheit und Höflichkeit, aber eigentlich bleibt er passiv und abwesend. Er lässt sich treiben, ohne einen rechten Plan, seine Jobs fallen ihm durch Zufall in den Schoß und entgleiten ihm aus Langeweile. Kein Buch, keine Kunst, kein Broterwerb und keine Liebschaft kann ihn bei der Stange halten.

Es entwickelt sich eine Typologie des Scheiterns, obwohl er nie eigentlich an seinen Aufgaben versagt: Er arbeitet pünktlich und gewissenhaft, aber Routine und feste Verhältnisse stoßen ihn ab, er kann sich zwar viele Fertigkeiten aneignen, daraus aber kein stimmiges Bild eines Berufslebens oder gar eine Persönlichkeit entwerfen. Nur beiläufig erfahren wir, dass er damit nicht ganz unten in der familiären Erfolgsrangliste steht: Sein dritter Bruder, Emil, wurde nach ähnlich unsteten Komplikationen mit Armut und Obdachlosigkeit ins Irrenhaus eingewiesen.

Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr psychologische Errata bevölkern Simons Welt. Die reiche Klara, deren Ehemann permanent auf Entdeckungsreisen unterwegs ist, während sie eine Affäre mit Kaspar beginnt. Der betrogene Ehemann, der nachts in den Wald schießen geht. Der brotlose Dichter Sebastian, dessen erfrorene Leiche Simon auf dem Berg finden wird. Die Wirtsstuben und Armenhäuser, durch die sich Simon schlägt und seine einzige Liebschaft, eine homosexuelle (man spürt die Skandalträchtigkeit der Zeit), zu einem Krankenpfleger. Immer wieder: das Weiche und die Rast- und Ziellosigkeit und der Eindruck von fortschreitendem Zerfall, obwohl doch so viel nicht nicht passiert.

Fraglich, ob es die Zeit ist oder Walsers Perspektive, die dem Anfang-Zwanzigjährigen wegen ein paar Umtrieben ständig das Verderben an den Hals dichtet. Erstaunt stellt man fest, dass die Prekarität der Wissenschaften, die Konkurrenz um Aufmerksamkeiten und die Relevanz von Vitamin B keine Erfindungen unserer jüngsten Zeit, des sogenannten Neoliberalismus sind, sondern in anderer Form auch vor hundert Jahren bereits wirksam waren.

Formal fällt der Hang zu inneren Monologen auf und die Zurückgeworfenheit der Sprache auf sich selbst, Handbewegungen, so, und dann so, während die dementsprechende Welt ohne jede Beschreibung bleibt. Ausgedehnte Traum- und Gedankenlandschaften, deren Interpretation ganze Doktorarbeiten füllen dürfte, führen die Suche nach entscheidenden Handlungsschritten verlässlich in die Irre. Simon, die Hauptperson, begreift das alles, aber kann es auch nicht ändern. Die klassische Erzählfunktion wird unmerklich, aber beständig unterwandert, der Spannungsbogen durch eine Gleichzeitigkeit von abstrakter Angespanntheit und weitgehender Konfliktlosigkeit ersetzt.

Die Zeit, sowohl ihren Verlauf über die Seiten des Romans als auch die genaue Stimmung dieses ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts, verstehe ich nicht, aber auch heute kann man sich, insbesondere, wenn an mit Mitte 30 immer noch keinen guten Plan fürs Leben hat, in diesem Buch bestens wiederfinden.

Foto von Jandira Sonnendeck auf Unsplash