Rezension zu Rainald Goetz: Johann Holtrop

Der ganz normale Finanzwahnsinn

Im Modus absoluter Überforderung entwirft Rainald Goetz ein undurchschaubar komplexes Firmengeflecht, um dessen Vorstandsvorsitzenden Johann Holtrop bei der Arbeit zu begleiten. Zwischen Presseterminen und Druckbetrieb im Medienhaus, Finanzspekulation und Juristerei, Mitarbeiterüberwachung, Spionage, Erpressung und Geldwäsche rauschen wir durch diesen auf mehrere Standorte verteilten kapitalistischen Ballungsraum, wobei die Erzählperspektive mit analytischem Zynismus die psychischen und moralischen Untiefen der Figuren auslotet und kommentiert.

Mit größter Geschwindigkeit und Informationsdichte werden wir durch die Büros und Aufsichtsratssitzungen, über dunkle Parkplätze und High-Society-Events geführt, immer wieder beleuchten Rückgriffe auf die politische und wirtschaftliche Lage der handlungstragenden frühen 2000er Jahre die Szene. Von Gerhard Schröder zu 911 wird die Handlung strukturiert, der Irakkrieg etwa als Startpunkt eines Aufschwungs skizziert und wechselnde Geschäftsmodelle durchgespielt. Holtrop verkörpert dabei zunächst einen revolutionären Jasager und Turbokapitalisten, der medikamentös aufgeputscht durch die Weltgeschichte fliegt und dabei mehr oder weniger über Leichen geht, wenn er einen Untergebenen aus dem mittleren Management aus einer Laune heraus entlässt und in den Suizid treibt.

Nach und nach aber bekommt auch er den Widerstand in noch höheren Etagen zu spüren, blind vor Selbstgewissheit verspielt er das Vertrauen des alten Firmenpatriarchen Assperg und dessen Frau und verliert erst den Draht zu den Mitarbeiter*innen, weil er sich auf mehr Anwesenheit in der Firma verpflichtet, wo seine Schwächen von Fahrigkeit und Ahnungslosigkeit schneller auffallen, bis er gänzlich die Kontrolle verliert. Die Bilanzen sprechen gegen ihn, von Krankheit versehrt gibt er ein fürchterliches Bild in der Öffentlichkeit ab und rastet schließlich im Urlaub mit seiner Frau in Paris einem Kellner gegenüber derart aus, dass er für drei Monate durch die gruseligsten Etappen der Traumvernichtungsmaschine Psychiatrie geprügelt wird.

Holtrop nimmt seinen unfreiwilligen Abschied aus der Firma, um im letzten der drei Kapitel noch einmal im Schnelldurchlauf als rising star der Finanzspekulation, die er selbst nicht mehr durchblickt, befeuert von einem zwielichtigen „Freund“, aufzugehen und am Horizont der Finanzkrise 2009, von der Staatsanwaltschaft mit schweren Vorwürfen konfrontiert, zu verglühen, das heißt, im Wahn vor einen Zug zu laufen.

Grandios schafft Goetz diese bipolaren Stimmungswechsel, in denen man kaum ein Wort des Finanzkauderwelsch mehr versteht, aber völlig überzeugt wird, dass es genau so, derart bodenlos, aufgeblasen und verrückt zugeht in dieser Welt. Dramaturgisch erweist sich das Täuschungsmanöver in der Peripetie, nach dem zentralen Niederschlag also der abermalige, noch einmal beschleunigte Aufstieg, dessen Erfolg schon beinahe ans Ende zu tragen scheint, als gelungener Schachzug, um zuletzt doch noch den anfänglichen Erwartungen gerecht zu werden, ohne zwischenzeitlich Langeweile aufkommen zu lassen. Nun ist das Buch schon wieder neun Jahre alt und wurde um zwei Krisen, Klima und Corona, überholt, aber wir dürfen sicher sein, dass auch an den Finanzmärkten noch lange nicht das letzte Wort gesprochen ist.