Rezension zu Peter Handke: Versuch über die Müdigkeit

Autopoietische / antipoetische Sinnestäuschung

„Versuch“, das erinnert an die Form des Essays, und tatsächlich knüpft Handke in diesem Text eine Reihe von persönlichen Erfahrungen, ausschweifenden Erzählungen und philosophischen Bemerkungen zu einem bunten Band zusammen.

In einer Art Selbstinterview, das mehrfach gar zu einem richtigen Selbstwiderspruch führt, nähert sich Handke, angesiedelt im Rahmen eines Aufenthalts in Linares, Andalusien, um die Pfingsttage des Jahres 1989, dem Gegenstand und vor allem den Chancen der Müdigkeit wie auch deren Gefahren. Relativ chronologisch beginnt er dabei mit Erfahrungen der Kindheit, wo die Müdigkeit sich als Resultat der Arbeit beim Korndreschen und Hausbau einstellt, wobei er die Feinheiten kollektiver versus vereinzelter, temporärer versus andauernder Müdigkeit scharf in den Blick nimmt.

Ausgesprochen präsent ist weiterhin das Verhältnis zwischen Mann und Frau, man möchte sagen, der Liebe, über das die Müdigkeit immer wieder einen gefährlichen, bis zu Gewalt reichenden Schatten wirft. Dieser Umschlag, bei dem die Müdigkeit keineswegs ein notwendig in den Schlaf führender Zustand ist, sondern ein regelrechtes Eigenleben entwickelt, ist prägend für Handkes weitere Auseinandersetzung. Müdigkeit ist nicht intentional erreichbar, aber in bestimmten Fällen doch ein wünschenswerter Zustand, der etwa die Lösung eines Problems und eine gewisse Offenheit, ein Zurücktreten des urteilenden Bewusstseins, anzeigen kann.

In solchen (seltenen) Zuständen notiert Handke einen unverstellteren, objektiveren Blick auf die Welt, in dem die ständige Verwortung hinter eine unmittelbare Präsenzerfahrung zurücktritt, die ihrerseits wiederum, so die Beobachtung, soziale Ausschlussmöglichkeiten an die Welt öffnet; es entsteht Blickkontakt, Vertrautheit, ganze Gespräche mit Fremden gehen leicht von den Lippen.

Tatsächlich beschreibt Handke hier wohl den euphorischen Anfang einer psychischen Grenzerfahrung, zu deren Erreichung Schlafentzug ein unterschätztes Mittel ist. Die Beobachtung, dass sich besagte Offenheit, Selbstverständlichkeit und Unmittelbarkeit der Welt unter bestimmten Bedingungen in die Psychose überträgt, fehlt indessen leider.

In stark mäandernder Parataxe verlieren sich oft die Prädikate, was dem Text im Fortgang eine eigene, Müdigkeit vorführende und erzeugende Funktion verleiht. Für einige der durchaus mal ganzseitigen Satzkonstruktionen bin ich mit dem Versuch einer grammatikalischen Rekonstruktion auch bei genauerem Hinsehen nicht zu Ende gekommen.

Eine etwas unangenehme Häufigkeit von, nennen wir sie mal, Tippfehlern im Text trägt ebenfalls zum öfteren Fadenverlust bei. Mit seiner überraschenden Perspektive auf ein vermeintlich allgemeinbekanntes Phänomen und der geschickten Verflechtung einer Vielzahl von Ebenen und Themen aber beweist Handke großen Verstand und großes Können.

Foto von Luis Villasmil auf Unsplash