Rezension zu Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum

Scharfe Kritik auf nichts gebaut

Im Zuge der Aufklärung rückt der Mensch auf die vakante Stelle Gottes vor. Die Begriffe der Menschlichkeit, Sittlichkeit und Vernunft ersetzen göttliche Gebote und das Versprechen des jenseitigen Himmelreichs, aber im Kern sind auch diese neuen Konzepte, die aus der französischen Revolution hervorgingen, auf dieselben transzendentalen und herrschaftlichen, das Individuum unterordnender Begründungsfiguren (Fundamente) gebaut wie ihre Vorgänger.

Das nun beschworene Wesen des Menschen, seine objektive Rationalität und historische Teleologie erweisen sich als holistische Idealvorstellungen, die mit den realen Verhältnissen nichts zu tun haben. Vielmehr werden alte Dichotomien von gut/böse, Geist/Körper etc. in der neuen Gegenüberstellung von Mensch und Unmensch fortgeschrieben und selbst Liberale und Kommunisten berufen sich fortwährend auf Ideen statt auf die Bedürfnisse des Einzelnen.

Stirner hingegen verteidigt das Ich als einzige Quelle moralischer Gewissheit: Ein jeder müsse sich fragen, was er braucht, also einen eigenen Willen ausbilden und diesen im freien Spiel der Kräfte gegen die Konkurrenz durchsetzen. Hier, wo Stirner seinen eigenen Wunsch- und Idealzustand skizziert, öffnet seine Argumentation eine Flanke für alle möglichen Vorwürfe des Neoliberalismus und der Selbstgerechtigkeit: Obwohl er eine Vielzahl von Vermögen in den Einzelnen wirksam werden lässt, die es auch Alten, Kranken und Kindern erlauben sollen, im Verein mit Anderen sich selbst zu verwerten, zu verbrauchen, sich Schutz und Nähe zu verschaffen, macht die kapitalistische Doppelbödigkeit der Begriffe ihm das Leben schwer.

Ironische Feinheiten und längere konjunktivistische Passagen, in denen die Haltung des Autors zum Gesagten und die Quellen der Zitate unklar bleiben, bieten ebenso multiple Anknüpfungspunkte wie rote Fahnen. Tod und Mord mag Mittel zum Zweck sein, die Menschenrechte sind nur eine fixe Idee, aber wenn die Arbeiter einmal ihr Eigentum, das heißt ihre Kraft und ihren Willen, in die eigene Hand nehmen würden, einen Mindestlohn fordern und Streikbrecher verprügeln z.B., dann ließe sich die Schere zwischen Arm und Reich schon schließen.

Es ist falsch, mahnt uns Stirner, sich als ohnmächtigen Spielball der Verhältnisse zu entwerfen und als Bittsteller und Lump an die Güte der Herrschenden zu appellieren. Alle Herrschaft, also alle verfestigten Machtverhältnisse im Sinne Foucaults, muss angegriffen und aufgelöst werden, Verträge wären nur befristet und stets auf Widerruf zu schließen, höfische Anlässe, Parteien und Kirchen sind ihm mit ihrer Dogmatik, die keinen Widerspruch und keine Kursänderung zuließen, zuwider, nur im Verein könnten sich die Kräfte der Einzelnen anlassbezogen und reversibel bündeln.

Leider spricht er wenig von der Polizei und verkennt die Definition des Werts der Arbeitskraft durch die Lebenshaltungskosten, auch die Endlichkeit der Ressourcen scheint den Einzelnen allzu schnell das Licht auszublasen. Meist sollen es dann doch die starken Männer sein, die mal ordentlichen auf den Tisch hauen und zeigen, was sie können, die hedonistisch sich selbst verwirklichen. Das ist ein schwacher und unsauberer Gegenentwurf, der schon aus mangelnder Mess- und Vergleichbarkeit der Vermögen zum Scheitern bzw. zum Verharren im Status Quo verurteilt ist (von wem? Von mir!), aber ich glaube tatsächlich, dass es nicht darauf ankommt.

Als Kernstück des Werks betrachte ich die Kritik an der Dogmatik und moralischen Erpressung der zeitgenössischen politischen Theorie, welche uns bis heute mit ihren vermeintlichen Pflichten und Wesenskernen und begrifflichen Dichotomien verfolgt. Daneben greift Stirner auf eine eigene etymologische Eristik zurück, in der sich geradezu demonstrativ die Gegenteile ineinander verkehren, wo die Empörung zum Emporkommen, die Geistesfreiheit zur Geistlosigkeit führt und die Fundamente des untertänigen, gerne auch des deutschen Geistes, ins Wanken gebracht werden. Damit lässt sich heutzutage zwar kaum noch ein Blumentopf gewinnen, aber der häufig gehörten Verurteilung Stirners als neoliberalem Anarchokapitalisten, der sich einzig von der Steuerzahlung befreien möchte, gilt es doch etwas entgegen zu halten.

Privilegien sind interessant in ihrer Diskussion, Kannibalismus und diabolische Qualitäten weist der Text ebenfalls auf und schon Deleuze hat bei Spinoza angemerkt, dass wir nicht wissen, was wir vermögen, von Leibniz taucht die beste (zumindest die „wirklichste“) aller möglichen Welten auf und als Materialquelle macht das Buch großen Spaß. Allen Stirner-Kritiker*innen sei eine ergebnisoffene Lektüre wärmstens empfohlen, falls mensch aber nicht in einer verstockten Dogmatik festklebt, lernt eins hier doch nicht mehr so viel Neues.

Foto von Adam Thomas auf Unsplash.