Rezension zu Jean-Paul Sarte: Die Fliegen

Der freie Mensch trägt seine Last allein

Die Stadt Argos liegt im Leiden. Vor fünfzehn Jahren erschlug Ägist den König Agamemnon und setzte sich an dessen Platz, auf den Thron und an die Seite Klytämnestras. Deren Tochter durfte fortan die dreckige Wäsche waschen, der Sohn Orest sollte getötet werden, entkam aber mit Hilfe seiner Amme und wuchs wohlbehütet im Athener Umfeld auf. Er ist sich über seine Geschichte im Klaren und kommt nun zu Beginn des Stücks als Achtzehnjähriger in Begleitung seines Lehrers nach Argos zurück.

Der Königsmord lastet auf der Stadt, Menschen wie Türen sind verschlossen, es herrschen Trauer, Reue und Selbstkasteiung. In einer durchsichtigen Scharade falscher Identitäten trifft Orest auf Jupiter und Elektra, die ihm beide raten, die Stadt zu verlassen, sei er nun ein Fremder, der der Stadt entfremdet ist, oder konjunktivisch auch Orest. Doch je mehr ihm anderes geraten wird, desto mehr wird er hineingezogen.

Er bleibt in der Stadt und wohnt dem jährlichen Reuezeremoniell, der Aufweckung der Toten, bei, auf dem Elektra im weißen Kleid eine Szene macht. Sie will das Volk aufwiegeln gegen Ägist, endlich wieder Spaß zu haben, sie tanzt und fordert die Götter heraus, beinahe funktioniert es, aber Jupiter greift ein und sie verliert. Orest offenbart sich ihr und seine Wut steigt, er sucht nach einer Tat, sich mit dem Leiden des Volkes gemein zu machen.

Eine Transformation vom zahmen Jüngling zum grausamen Rächer setzt ein, der Elektra widerspenstig assistiert. Sie schleichen in den Thronsaal, lauschen Ägists resignativer Verzweiflung im Gespräch mit Klytämnestra und dem sich offenbarenden Jupiter, dann schreitet Orest zur Tat. Er tötet mit technisch ungeschicktem Schwert den wehrlosen Ägist und im Anschluss die eigene Mutter. Elektra zweifelt, diese Grausamkeit hat sie sich erträumt, war auf ihre Realität jedoch nicht gefasst. Die Geschwister flüchten in den Tempel des Apoll, wo sie vor Strafe geschützt sind. Dort werden sie jedoch von den Erinnyen und der aufgebrachten Bevölkerung belagert. Orest widersteht allen Zweifeln an seiner Tat, während Elektra mitgenommen, schwach, gealtert die Rolle ihrer Mutter übernimmt.

Jupiter tritt ein und sucht mit Zuckerbrot und Peitsche, Orest ins Gewissen zu reden. Er, Jupiter, habe Orest ja geschaffen, Orest sei für das Leid seiner Schwester verantwortlich, aber wenn er Reue zeige, könne er König werden. Orest streitet den Gott hitzig philosophisch an die Wand, der Mensch sei frei geschaffen und rein für sich allein verantwortlich, sein Laster aber kann er tragen. Elektra jedoch unterwirft sich dem Gott. Orest stellt sich der Menge, er führt vor, wie er den ganzen Fluch auf sich genommen hat wie ein Rattenfänger, er marschiert seelenruhig durch die erst aufgebrachte, dann verdutzte Menge und zieht den ganzen Schwarm von Fliegen und Erinnyen mit sich.

Eine sehr präzise, klassische Form wählt Sartre hier, und es ist einzig diese beherzte Affirmation der Freiheit, die im antiken Mythos vergeblich zu suchen wäre. Die Nähe der Handlung an der Vorlage hat mich doch überrascht, sowas überrascht mich immer, ich traue mich ja nie an Vorlagen heran, formal ermüdet die klassische Dramaturgie aber auch ein wenig. Es ist gut, sein Mythenwissen einmal aufzufrischen, das genau sagt ja mein derzeitiger Plan, aber ob ich wohl nochmal etwas damit anfangen können werde? Aber gut, ein schönes Stück, diese Art des Schreibens ist doch interessant. Immerhin, Freiheit leben und das Leid auf eigenen Schultern tragen, gute Sache, Gott sei uns egal.