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Rezension zu Jacques Derrida: Apokalypse

Die Apokalypse hat immer schon statt, aber sie wird nicht kommen

In dem Band von 1980 spricht Derrida „Über einen neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie“, auf den er durch eine dekonstruktive Exegese zweier Texte, nämlich der Offenbarung des Johannes einerseits und Kants Pamphlet Über einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie andererseits eingeht. Viel Raum widmet er dabei der Frage des Tons, den er zwischen Musikalität und Stimme aufspreizt und zu zeitgenössischen technischen Entwicklungen der Modulation und Synthetisierung in Bezug setzt.

Mit der Apokalypse indessen verfährt er etymologisch, wobei sich die beiden Pole der Enthüllung und des Weltuntergangs umeinander winden. Mit der gewohnt überfordernden sprachlichen Feingliedrigkeit seziert Derrida die Begriffe, wobei deutlich wird, dass das prophezeite Ende der Philosophie oder der Welt nie eintreten wird, weil dieses gleichzeitig als eine Bedingung, als Suche nach der Wahrheit, immer schon statt hat. Während Derrida, besonders im zweiten Text des Bandes, seine Analyse vor der Projektionsfläche der atomaren Aufrüstung entwirft, besticht die Aktualität der diskursiven Figur der Apokalypse auch in ihrer Übertragbarkeit auf die heutige Debatte um Klimawandel und co.

Das eschatologische Denken erweist sich demnach nicht bloß als ein „neuerdings“, etwa in den 80ern, erhobener Ton, sondern von der Bibel bis heute als eine durchgängige Konstante, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Das eigentliche Ereignis der Apokalypse jedoch bleibt beständig aus, würde es sich doch per definitionem jeder symbolischen Vermittlung durch die Vernichtung des literarischen Archivs (oder der Welt) entziehen. Insofern durchzieht die Apokalypse jede Form der Literatur, ja sie ist selbst in erster Linie ein literarische Prinzip, eine Erfindung, uneinholbar von der prophezeiten Realität, Apokalypse der Apokalypse.

Es gibt für Derrida eben nicht die Wahrheit, sondern nur eine Reihe historisch gebundener Wahrheiten, Meinungen (doxa), die im Ringen um die Macht gefangen bleiben. Das sehen wir heute [am 06.09.2019, AG] in der Politik von Donald Trump oder Boris Johnson sehr gut, wo die Diskursteilnehmer*innen sich regelmäßig auf ihre Wahrheiten berufen und die gegnerische Partei lügen strafen, ohne dass die vermeintlichen Beweise der Debatte der Welt ein Ende bereiten könnten.

Aber ist nun der Klimawandel "nur" eine Narration? Diese Frage ist wahrscheinlich falsch gestellt, denn selbstverständlich besitzen Narrationen Wirkungen und Gründe, sie sind nicht reine Phantasiegebilde (bzw. manche mehr, andere weniger). Und naja, falls die Welt doch untergeht, können Sie Derrida ja des Widerspruchs bezichtigen, da wird er sich aber im Grabe umdrehen.

Weiterführende Texte wäre zu entwerfen: Der apokalyptische Ton. Donald Trump, Wahrheit, Lüge, Prophezeiung. Und: Wir können munter weiterreden. Über einen neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton auf der Projektionsfläche des Klimawandels.

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