Rezension zu Jack Kerouac: On the Road. Die Urfassung
Hinterher ist man immer schlauer
In der Urfassung ist alles noch echter als im redigierten Stück, so lautet die Theorie. Die Maßstäbe für die Beurteilung eines Buches schwanken natürlich mit dem Hintergrundwissen, das dazu herangezogen wird; ich weiß nicht, wie ich dazu stehe, will ich doch ein möglichst wenig mit Theorie aufgeladenes, ja geradezu ein unmittelbares Urteil fällen und werde doch ohne Zweifel von gewissen Vorannahmen beeinflusst.
Der Text ist in fünf Bücher gegliedert, in denen er jeweils absatzlos über die Seiten läuft. Jedes der Bücher beschreibt eine Reiseerfahrung des Ich-Erzählers Jack Kerouac, die diesen in unterschiedlichen Konstellationen von Personen und Fortbewegungsmitteln zwischen der Ost- und Westküste der USA hin- oder herführt, bzw. im vierten Buch aus den USA nach Mexico City. Die gesamte Handlung spielt jeweils in Episoden in dem Gesamtzeitraum zwischen 1947 und 1951 oder so, der Protagonist ist arm, will aber das Leben in vollen Zügen genießen und betont immer wieder, wie verrückt, ekstatisch und abgedreht seine Aktionen sind.
Er freundet sich unterwegs mit Neal Cassidy an, der auch keine besonderen Eigenschaften besitzt, außer sehr schnell Auto zu fahren und gerne Musik zu hören, und so treibt das Buch voran, immer ein paar hundert Kilometer Autofahren, Trampen, Bus oder Zug, Landschaft, Straße, dann kurze Aufenthalte in Städten und Dörfern, Saufen, Frauen, ab und zu mal Musik oder Drogen, man kann das gar nicht richtig beschreiben, denn es ist unendlich langweilig, eine Erzählstruktur wie ein Wetterbericht, aufgereihte Städtenamen, müde Beschreibungen, aber alles mit der größten Begeisterung vorgetragen.
Die Highlights sind 140km/h auf der Autobahn, Komasaufen, ein Kartendeck mit sexualisierten Bildern und ein Bordellbesuch. Die personalen Beziehungen bleiben undurchsichtig, Sympathien und Antipathien entwickeln sich schlagartig aus einer Boah-ey-Mentalität, die besten Freunde finden nie wirklich Zeit, miteinander zu reden, der Trip muss ja irgendwie weitergehen. An wenigen Stellen eröffnet sich zumindest eine schön staffierte Innenperspektive von Musik- oder Drogengenuss, im allgemeinen aber muss man mit oberflächlichen Aneinanderreihungen sogenannter Erlebnisse allzu leicht zu begeisternder Trottel Vorlieb nehmen.
Aber es stimmt natürlich, dass Kerouac und seine Beatgeneration hier Meilensteine der Erfahrung gesetzt haben. Nur weil wir heute die Route 66 auf Google Maps abfahren können und uns daran gewöhnt haben, jedes Wochenende drei Tage wach durch die Clubs zu tingeln, können wir die Pionierleistungen Kerouacs ja nicht als völlig naiv verwerfen. On the Road ist ein treffender Ausdruck der Anspruchslosigkeit, die den weltweiten Nachkriegsgenerationen ein schönes Leben beschert hat. Sie konnten ja nichts für ihre Naivität, und meine nachgeborene Arroganz tut mir auch ein bisschen Leid.
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Foto von Annie Spratt auf Unsplash