Rezension zu Hans Erich Nossack: Spirale. Roman einer schlaflosen Nacht
Bestimmung und Ungewissheit
In fünf „Spiralen“, in sich geschlossenen Kapiteln mit je eigenen Figuren und Erzählperspektiven, präsentiert Nossack diesen Roman, der sich vielleicht am ehesten dadurch auszeichnet, dass nichts so richtig zusammenpasst. Schon der Untertitel wird durch die Gliederung durchkreuzt, die heterogenen Erlebnisse, wie sie, einem Lebenszyklus folgend, dargestellt werden, entziehen sich immer wieder der Kontinuität, der man zuvor auf der Spur zu sein glaubte.
Die erste Spirale, „Am Ufer“, wird von einem jugendlichen Ich-Erzähler in Gang gesetzt, der sich, ohne es selbst so recht zu verstehen, nach einem Besuch bei seiner Schwester in einen illegalen Grenzübertritt mit Hilfe eines Schleuserrings hineinwirft. Gesprengte Brücken, tiefes Schweigen, unterschwellige Solidarität und dazu ein Junge, der viel denkt, ohne daraus schlau zu werden. In der Begegnung mit einem Mädchen auf seiner Flucht sprudelt alles aus ihm heraus, eine kindliche Logik mit unfertigem Selbstbewusstsein, die sich nach einem äußeren Machtwort sehnt, weil für die persönliche Freiheit der Platz fehlt.
In der zweiten Spirale, „Die Schalttafel“, wird aus dem deterministischen Prinzip eine ganze Theorie ersonnen, der Ich-Erzähler ist aus der Burschenschaft ausgetreten und will sein Leben selbst in die Hand nehmen, was von einem älteren Kommilitonen als ein immer vertrackteres System von Schachzügen interpretiert wird, mit denen sich das Individuum gegen eine Gesellschaft beweist oder sich ihr assimiliert, von deren Macht und Zielsetzung nur dunkle, widersprüchliche Ahnungen verhandelt werden. Der Kommilitone wartet mit einem ausgeklügelten Plan auf, er will sich perfekt ans System anpassen, Studium, Beruf, Frau, Kind, Jahrzehnte seines Lebens in eine „Tarnung“ investieren, während die eigentliche Frage nach dem Widerstand gegen ein irgendwie diktatorisches Regime völlig in den Hintergrund gerät.
In der dritten und längsten Spirale, „Unmögliche Beweisaufnahme“, steht ein Angeklagter mittleren Alters vor Gericht, weil seine Frau verschwunden ist. Der Versicherungsmakler ist sich keiner Schuld, aber auch keiner Unschuld bewusst, in ausschweifenden Bögen berichtet er vom Kennenlernen seiner Frau bis zum Tag ihres Verschwindens, er ersehnt eine Verurteilung, das heißt die Abgabe von Verantwortung, stellt das Gericht mit seiner Selbstvergessenheit, Metaphern und Widersprüchen auf eine harte Probe. Der Vergleich zu Kafkas Prozess drängt sich auf, nur ist es diesmal das Gericht, das daran scheitert, mit seinen strafrechtlichen Kategorien von Schuld und Sühne des Angeklagten habhaft zu werden. Finanzielle Motive, Eifersucht, Wahn, alle möglichen Erklärungsmodelle prallen an dessen sich ausliefernder Selbstaufgabe ab.
Nach diesem Prozessprotokoll folgt in der vierten Spirale die „Begnadigung“ eines zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilten Insassen, der alles daran setzt, sich der gegebenen Ordnung zu fügen. Das Versprechen der Freiheit jedoch, für das sich sowohl der Priester als auch der Direktor des Gefängnisses einsetzen, bedroht aus Sicht des Gefangenen ebenjenes Ordnungsgefüge, das ihm einen lebenslangen Aufenthalt mit geregelten und wohlbekannten Routinen versprach. Nur mit größter Mühe gelingt es den Beteiligten gerade durch Ausübung ihrer Weisungsfunktion, den Gefangenen zur Akzeptanz seiner Begnadigung zu bewegen.
In der fünften und letzten, kurzen Spirale, „Das Mal“, begleiten wir eine Expedition durch dichtes Schneegestöber, das die Kälte als stetig wiederkehrendes Motiv aufgreift, wo das Team abseits der Zivilisation einen im Stehen Erfrorenen entdeckt, dessen Gesichtszüge ein mysteriöses Lächeln zeigen. Ich-Erzähler und Expeditionsleiter müssen eine Entscheidung treffen, weitergehen oder zurück, die die bisherigen Dilemmata und Sinnlosigkeiten noch einmal auf eine höhere, lebensfeindliche Ebene hebt.
Über den Verlauf des Romans spannen sich durchaus zentrale Motive von Determinismus und Freiheit sowie Bildstrecken von Schlaflosigkeit, Flucht und Kälte, aber ein eindeutiger Zusammenhang der Handlungsebene ist nicht ohne Weiteres herzustellen. Ob es sich um die selbe Person handelt, die da erst über eine Grenze geschleust werden soll, dann ihr Studium schmeißt, vor Gericht landet, begnadigt wird und sich schließlich im Schnee verliert, ist mehr als unsicher.
Die literarischen Mittel, mit denen diese Unsicherheit produziert wird, wirken streckenweise etwas baukastenartig, finden sich in einigen der überzeugten Plädoyers gegen die Willensfreiheit aber auch souverän eingesetzt. Mit psychoanalytischer Theorie und zeitgenössischen Bezügen lassen sich bestimmt noch eine ganze Reihe von Geheimnissen im Text lüften, am Ende scheint es ihm dann aber doch etwas an Allgemeingültigkeit und Kohärenz zu fehlen. Vielleicht nicht ganz ein Meisterwerk, aber doch eine kurzweilige, teils amüsante Leseerfahrung mit einer gewissen Tiefe.