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Rezension zu Hans Erich Nossack: Der Neugierige

Evolution und Einsamkeit

Gerahmt von einer philosophischen Erwägung über die (Un)Gewissheit seiner Lebendigkeit berichtet ein Fisch, jedenfalls ein kiemenatmendes, mit Flossen bestücktes und in Schwärmen schwimmendes Lebewewsen, von seinen selbst für einen sprechenden Fisch noch immer ganz außergewöhnlichen Erfahrungen, zu denen ihn seine titelgebende Neugierde gebracht hat.

Zunächst stellt er die kulturelle Blütezeit seiner Art vor, er berichtet von der Befreiung der geschlechtlichen Liebe aus dem strengen Regime der Paarungszeit und schildert das Aufkommen wissenschaftlicher Methoden, mit deren Hilfe erst nach einem verschwundenen Stein gesucht wird, dann jedoch langsam das ganze Weltbild der Fische erweitert wird, sie stellen einen periodisch sinkenden Meeresspiegel fest, eine damit einhergehend sich verändernde Lichtquelle in der Nacht, und auch moralische und religiöse Überlegungen erfreuen sich unter den Fischen zunehmende Beliebtheit.

Während ein Großteil sich aber noch der Geschlechtsliebe hingibt, wächst der Erzähler zu einem forschen Eigenbrötler heran, der auf eigene Faust nicht bloß schnöde, gesicherte Erkenntnisse, sondern gelebte Erfahrungen sucht, die alles bisher Gekannte in Frage stellen. Mit einem Freund, der als einziger seinen Erfahrungsdrang teilt, springt er immer kühner aus dem Wasser, lässt sich an den Strand und zurück ins Wasser spülen, und begibt sich auf eine geheimnisvolle Entdeckungsreise Richtung Meeresgrund.

Durch dunkles, zähes, drückendes und warmes Wasser kommen die beiden an Schluchten, aus denen mattes, violettes Licht und rot-orangene Fäden strahlen, sie treffen auf die in ihrer Religion so genannten Namenlosen, den Ursprung allen Lebens, große, sinnlose Körper, die Beschreibung klingt eher vulkanisch, aber sie saugen durch eine Körperöffnung unvermittelt Wasser und Nahrung ein, was den etwas zu forschen und schwachen Freund schließlich das Leben kostet.

Der Erzähler entkommt knapp mit einer Welle von Ausdünstungen und findet sich mit einem mystischen Erlebnis allein in der Welt. Er vereinsamt zunehmend, ergibt sich der Sinnlosigkeit alles Tuns und lässt sich, nicht lebensmüde, aber auch nicht elanvoll, noch einmal auf den Strand spülen, wo er sich auf regennassem Boden durch verschiedene Tümpel schleppt. Hatte er in der Tiefe den Ursprung ergründet, so rückt er nun mühsam in die Zukunft vor. Er befindet sich im Nichts, die Welt ist unbekannt und feindlich, aber er blickt zurück aufs Meer und erkennt seine Spur, seine Richtung, im Sand und gewinnt daraus den Beweis, dass er (noch) lebt.

Ganz erstaunlich gelingt es Nossack, die Frage nach dem Sinn des Lebens in den Erfahrungshorizont eines Urzeitfisches einzubetten und so die persönliche/personale Entwicklungsebene Seite an Seite mit philosophischen Erkenntnissen und dem urzeitlichen Sprung der Evolutionstheorie zu führen. Sprachlich wirkt der Text gut gealtert, der etwas akademische, teilweise aphoristische Gestus mit dem leicht veralteten Vokabular bekommt dem evolutionsspringenden Fisch sehr gut. Die logische, notwendige Abfolge von Ereignissen und der naive Blick auf die Welt täten sicherlich auch heutigen Texten manchmal gut.

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