Rezension zu Franz Kafka: In der Strafkolonie

Textuelle Selbstjustiz

Ein Reisender von offenbar beachtlichem Rang besucht eine Strafkolonie, oder vielmehr im Laufe des Texte nur einen kleinen Ausschnitt derselben. Er soll Zeuge einer Exekution werden, die mit der Hilfe einer besonderen Apparatur durchgeführt wird, die der alte Kommandant vor seinem Ableben zu diesem Zweck entworfen hat.

Damit jedoch gerät der Reisende zwischen die Fronten eines Generationenkonflikts; der alte Kommandant, sein Apparat und das gesamte Rechtswesen dieser Zeit genießen unter den gegenwärtigen Verhältnissen kein großes Ansehen mehr. Die Technik ist kompliziert, wartungsintensiv, veraltet und geradezu unverständlich, der wortwörtlich kurze Prozess, der ihrer Anwendung vorausgeht, sieht weder die Möglichkeit der Verteidigung noch eine Urteilsverkündung vor.

Der Offizier, der den Apparat bedient und vorstellt, erweist sich als letzter Verfechter der alten Ordnung; den Reisenden versucht er dennoch mit dessen behauptetem Einfluss für seine Sache zu gewinnen. Der jedoch bleibt skeptisch gegenüber dem komplizierten Folter- und Tötungsinstrument, welches das Urteil durch die Einritzung des Gesetzestextes in die Haut des Verurteilten vollstreckt. Der bereitgestellte Verurteilte – sein Verbrechen bestand im Verschlafen einer absurden stündlichen Salutpflicht, die ihm für seine Schlafenszeit auferlegt wurde, das universelle Urteil ist die Todesstrafe – beobachtet das Geschehen mit kindischem Gleichmut, ebenso der ihn bewachende Soldat.

Durch die anhaltende Skepsis des Reisenden bekehrt, schenkt der Offizier dem Verurteilten die Freiheit und richtet stattdessen sich selbst. Er ändert das Programm des Apparats auf das Gesetz ‚sei gerecht‘ (zumindest behauptet er das; die Programmpläne sind unleserlich), legt sich auf das „Bett“ und wartet darauf, dass die „Egge“ ihre Arbeit verrichtet. Technische Fehler in Form von herausspringenden Zahnrädern jedoch verkürzen den für zwölf Stunden angedachten Folter- und Erlösungsprozess zu einem kurzen blutigen Gemetzel. Der Reisende bleibt perplex zurück. Vom Soldaten geführt besichtigt er noch das unter einem Kneipentisch liegende Grab des alten Kommandanten und liest die dort angebrachte Prophezeiung. Danach jedoch ergreift er in fast panischer Eile die Flucht von der Insel, ohne sich auf weitere Kommunikation einzulassen.

Die Gewichtung der zahlreichen Spannungsfelder scheint der reinen Interpretationswillkür anheim gegeben zu sein. Da ist die komplizierte Apparatur mit ihren unleserlichen Bedienungsanleitungen und ihren genau beschriebenen, aber doch sinnlos zusammenhängenden Teilen; der Konflikt zwischen altem und neuem Kommandanten; die Figur des Reisenden/Forschers und ihre undurchsichtige Machtkonstellation; die ganze Kolonie als Ökosystem mit ihren fremdartigen Gebräuchen; schließlich die religiösen Anspielungen auf Prophezeiung und Erlösung.

Auffällig ist die prominente Rolle der Schrift(stücke), die sich von der unleserlichen Bedienungsanleitung über die von der Maschine gestochenen Gesetzestexte bis zur kleinen, verborgenen Grabinschrift erstreckt; Richtig und Falsch, Signifikanten und Signifikate, halten die ganze Zeit in der Schwebe, und gerade die Unentscheidbarkeit von Erfolg oder Misserfolg der textuellen Selbstjustiz ist es vielleicht, die den Reisenden von der Insel drängt.

Foto von Martin Krchnacek auf Unsplash