Rezension zu Franz Kafka: Der Landarzt

Arbeit im Zwielicht

Irgendetwas stimmt da nicht. Der Ich-Erzähler, ebenjener Landarzt aus dem Titel, ist mit seinen Arbeitsbedingungen und den Gewohnheiten der Landbevölkerung unzufrieden. Sein Pferd ist gestorben, deswegen versucht er, sich für den eingetroffenen Notruf ein Pferd im Dorf zu leihen, sein Dienstmädchen Rosa wird aber mit diesem Anliegen von allen abgewiesen, es stürmt und schneit, wer will da schon sein Pferd herausgeben.

Der Arzt steht auf dem Hof, flucht, überlegt, stößt irgendeine Tür auf, der Schweinestall, aber daraus kommt ihm ein Pferdeknecht mit zwei prächtigen Pferden entgegen, die alle drei quasi aus dem nichts kommen, wie ein Feuerzeug, das man beim Aufräumen unter Couch findet, man wusste gar nicht, dass es da noch einen Knecht und Pferde gab. Der Wagen ist schnell bereitgemacht, aber der Knecht hat es auf Rosa abgesehen und erzeugt durch seine Weigerung, den Arzt zu begleiten, ein seltsames Dilemma: Entweder der Arzt kann dem Notruf nicht nachgehen oder sein Dienstmädchen wird vergewaltigt.

Die Proklamation der Ausweglosigkeit verblüfft, der Knecht sollte doch nicht solch ein Tier sein, ihm werden aber auch Schläge angedroht wie einem Tier, nachdem er Rosa in die Wange gebissen hat, aber es hilft alles nichts. Der Arzt gibt das Dienstmädchen auf und macht seinen Job. Der Patient ist ein Junge, von der ganzen Familie umsorgt, er sagt: „Lass mich sterben“, dabei fehlt ihm gar nichts, behauptet der Arzt, aber auf den zweiten Blick hat der Junge plötzlich eine handtellergroße, blutig klaffende Wunde in der Seite, bevölkert von fingerdickem Gewürm.

Dieses Hin und Her vollkommen widersprüchlicher Diagnosen durchzieht den gesamten Text. Die krasse Folge absurder Fehlinterpretationen lassen Zweifel an der Wahrnehmungs- und Zurechnungsfähigkeit des Ich-Erzählers aufkommen. Aber die Dorfgesellschaft wird feindselig, entkleidet ihn und zwingt ihn auf das Bett neben den schwerverletzten Jungen, die Pferde beobachten alles durchs Fenster, der Arzt denkt an seine Pflicht und seine Flucht, der Junge stirbt, vielleicht, und der Arzt türmt nackt Hals über Kopf aus dem Haus, nimmt den Wagen und flucht immer noch auf den Betrug, den ihm angeblich ein unnötiger Notruf eingebracht habe.

Es ist ein Drahtseilakt, bei diesen vielen Sprüngen auf den wenigen Seiten die Orientierung zu behalten, während Kafka mit bewundernswerter Präzision und größtem Minimalismus unlösbare Widersprüche verfertigt. Obwohl der Ich-Erzähler gelegentlich seine Meinung kundtut, bewahrt er über weite Strecken doch einen nüchternen, ärztlichen Ton, der in seinem Mangel an Verwunderung in deutlichem Widerspruch zu den geschilderten Ereignissen steht. Großartiges Programm!