Rezension zu Franz Kafka: Das Urteil
Eine Frage der Aufrichtigkeit
Ein junger Mann tut sich irgendwie schwer damit, zu sagen, was er denkt. Er schreibt an einen Freund in Petersburg, den er zuletzt vor drei Jahren gesehen hat, aber ist mehr damit beschäftigt, seine persönlichen Angelegenheiten und Meinungen zu verbergen, statt sich wie ein echter Freund zu verhalten.
Georg weiß, dass das Geschäftsmodell des Freundes in Russland scheitert und der Freund krank wird, hat aber Angst, ihn mit Hilfsangeboten bloßzustellen. Die eigenen Geschäftserfolge und sogar seine Hochzeit verschweigt er, bis es zu strangen Auseinandersetzungen mit seiner Verlobten und dem verwitweten Vater kommt. Erstere besteht darauf, den Freund zur Hochzeit einzuladen, zieht aus dem distanzierten Verhältnis aber auch Schlüsse auf unlautere Charaktereigenschaften ihres Zukünftigen. Dieser entschließt sich also, den Freund doch einzuladen, will das Ganze aber noch mit seinem Vater besprechen, der in widersprüchlicher Erscheinung auftritt.
Der Vater wird alt, kränklich, pflegebedürftig und vergesslich beschrieben in seinem dunklen Zimmer, dann aber wieder groß, stark und die Fäden ziehend, der Sohn übernimmt eine Art Pflegerrolle, versucht seinen Meinungswechsel und die Bedenken bei der Kommunikation mit dem Freund darzulegen, da reißt der Vater das Heft an sich und herrscht den Sohn für dessen Unaufrichtigkeit und Wankelmut an. Er selbst, der Vater, unterhalte einen ehrlichen Briefkontakt mit besagtem Freund, in dem er diesem die kommunikativen Verfehlungen des Sohnes offenlege.
Es springt ein zerrüttetes Vater-Sohn-Verhältnis zu Tage, das durch Herrschsucht und Vorwürfe geprägt ist, ohne dass die Gründe sich so recht ahnen lassen. Wortwörtlich verurteilt der Vater den Sohn zum Tode durch Ertrinken, eine jähzornige Übertriebenheit von gleichwohl performativer Wirkung. Wie paralysiert/hypnotisiert begibt sich der Sohn aus dem Haus und springt bei laufendem Verkehr von einer Brücke. Auch ich bleibe paralysiert zurück mit dem Gefühl, irgendeinen zentralen Knackpunkt der Geschichte nicht verstanden zu haben.
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Foto von Herolinda Pollozhani auf Unsplash