Rezension zu Frank Kafka: Die Verwandlung

Burnout und Familienglück

„Es war kein Traum.“ Die ganze physische und soziale Welt dieser Erzählung lässt keinen Zweifel an ihrem Wirklichkeitsanspruch. Gregor Samsa, ein Reisender, hat sich über Nacht in ein „unheimliches Ungeziefer“, einen „Mistkäfer“, irgendeine Art menschengroßes, vielbeiniges, fühlerbesetztes Insekt mit gepanzertem Rücken verwandelt. Erstaunlicherweise scheint ihn dieser Umstand jedoch zunächst weniger zu beeindrucken als derjenige, dass er offenbar das Weckerklingeln um zweieinhalb Stunden verschlafen, damit seinen Zug verpasst hat und nicht mehr pünktlich auf der Arbeit erscheinen würde.

Vollkommen pflichtversessen ignoriert er seinen persönlichen Ausnahmezustand und denkt lieber ans Geschäft, an die Strapazen des Berufs, eine Entschuldigung für sein Fehlen, seinen erbarmungslosen Chef und seine Verantwortung gegenüber der Familie, deren Auskommen er ganz allein finanziert. Prompt erklärt er sich für gesund, obwohl er eigentlich gerade neben dem Verwandlungsproblem auch noch eine ganze Reihe von Burnout-Symptomen, Erschöpfung, Sinn- und Perspektivlosigkeit und Kündigungsabsichten (in ferner Zukunft) zu Protokoll gegeben hat. Er muss arbeiten, um die Schulden aus der Insolvenz seines Vaters abzutragen.

Mühevoll bewegt er sich also aus dem Bett, da kommt schon der Prokurist des Geschäfts vorbei, um sich nach seinem Verbleib zu erkundigen. Das erste Türöffnen und der damit hergestellte intersubjektive Kontakt jedoch bestätigt nicht nur die Wirklichkeit der Verwandlung, sondern offenbart auch das Versagen von Gregors Artikulationsfähigkeit, was zu blankem Entsetzen aller Beteiligten und zu einer überstürzten Flucht des Prokuristen führt.

In langsamen Schritten wird sich Gregor seiner immer aussichtsloser werdenden Abseitsposition bewusst. Er kann kaum noch essen oder schlafen, einzig noch in der Wohnung herumkriechen, die Familie sperrt ihn ein und (verliert mit der Zeit auch die letzten Anzeichen von Solidarität) nimmt diverse Arbeiten und Untermieter auf, um die finanzielle Belastung zu stemmen. Die Zeit verfliegt, ein letzter Annäherungsversuch Gregors scheitert mit einer schweren Verletzung, die der verständnislose Vater ihm zufügt, bis Gregor schließlich unter der hoffnungsvollen Erkenntnis, eine einzige Belastung für die Familie geworden zu sein, verendet. Vater, Mutter und Schwester aber verhilft sein Tod zu neuer Lebensfreude; es war ja auch für sie nicht einfach.

In einer komplexen Matrix mit materiellen und psychischen Ebenen werden hier Vektoren von Verantwortung, Hoffnung und Enttäuschung, von Individuum, Familie und Beruf zueinander ins Verhältnis gesetzt, ohne sich auf Eindeutigkeiten festlegen zu lassen. Gregor opfert sich, mit seinem nervenaufreibenden Job wie mit seinem „befreienden“ Tod für die Familie, die sich über weite Strecken undankbar verhält. Sein größtes Problem indessen ist es wohl, dass er sich selbst nicht kennt und auf seine eigenen Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt. Mit erstaunlicher Finesse bringt Kafka es fertig, diese psychologischen Dimensionen mit der materiellen Geschichte eines Horrorkäfers, der unter Mangelernährung leidet und an einer fauligen, von einem Apfel geschlagenen Wunde verreckt, zu verknüpfen.