Rezension zu Euripides: Hippolytos

Keuschheit schützt vor Schicksal nicht //oder// Jungfrauen habens auch nicht leicht

Ungläubig sitze ich da nach dieser Lektüre und frage mich, wozu ich überhaupt noch schreiben soll. Euripides macht sprachlos. Die geschickte Verzahnung von Götter- und Menschenwelt, das kundige Ausloten psychischer Zustände zwischen Vernunft, Depression und Wahnsinn beeindruckt bereits, aber die Aktualität einiger Probleme des Stücks für allerjüngste Debatten verblüfft geradezu.

Hippolytos, unehelicher Sohn von Theseus und einer Amazone (Hippolyte; eine typische Entführungs-, Vergwaltigungs-, Verstoßungsgeschichte, die im Text wenig Erwähnung findet), lebt im Palast seines Vaters in Trozen ein jungfräuliches, der Jagd verschriebenes Leben und lässt sich kein einziges Laster zuschulden kommen. Der Vater ist unterwegs, ein selten gesehener Gast im eigenen Haus, während die Stiefmutter Phaidra in eine ordentliche Depression rutscht. Sie ist bereits ganz abgemagert, redet kaum und wenn, dann würde sie am liebsten sterben.

Der überengagierten Amme gelingt es durch wildes Auf-sie-Einreden, ihr folgenden Begründszusammenhang aus der Nase zu ziehen: Die Hormone spielen verrückt, Phaidra ist in ihren Stiefsohn verliebt, fühlt sich jedoch an ihren Eheschwur gebunden und begegnet dem zerreißenden Konflikt zwischen Versuchung und Pflicht, zwischen anwesendem Sohn und abwesendem Vater, mit selbstverzehrender Tatenlosigkeit. Die Amme greift zur Kurzschlussreaktion, nachdem sie die vermeintliche Leidensursache an die Welt gebracht hat; Ehebruch oder Tod, heißt es für sie, und eiligst macht sie sich daran, die Bedingungen für ersteren mit Hilfe eines Zaubertranks herzustellen. Der schwächlichen Phaidra fällt statt Widerrede nur eine Nachfrage zur Konsistenz des Produkts ein, fair enough.

Die Kypris/Aphrodite verehrende Amme aber vergeigt es gründlich, der unter Eid in Kenntnis über die Situation gesetzte Hippolytos ist empört und weiß gar nicht, was schlimmer an dem Vorschlag ist: Der Ehebruch oder der Verlust seiner Keuschheit (oder doch der Semi-Inzest?). Die Szene bringt Phaidra endgültig um den Verstand; mit Vorstellungen von Pflicht und Ehre drischt sie auf ihre Gefühle ein, zu denen sie nicht stehen kann, quasi von sich selbst dissoziiert hängt sie sich nicht bloß auf, sondern begründet dies in einem Abschiedsbrief auch noch mit einem Vergewaltigungsvorwurf gegen Hippolytos. Kaum ist sie tot, erscheint Theseus, schenkt dem Brief Glauben und verflucht und verbannt den Sohn ohne viel Anhören und Ermittlung.

Die treue Seele tut, wie ihm geheißen, fährt davon und wird, durch den Meeresgott bedrängt, von seinen Pferden zerrissen, zertrampelt und vertilgt. In gerade noch lebendigen Stücken wird er dem Vater erneut vorgesetzt, welcher langsam zur Einsicht kommt. Der jungfräuliche Sohn lässt kein böses Wort über seine Lippen kommen und spricht ohne zu zögern die Verzeihung aus. Denn Schuld tragen die Götter, allen voran Aphrodite, die als Verfechterin der Wollust alle Hebel in Gang setzte, den widerstrebenden Jüngling zur Rechenschaft zu ziehen bzw. ihn aus reinem Gutdünken zu vernichten.

Aktualität beweisen besonders die Fragen der Definitionsmacht und Beweisführung, mit erstaunlichem Aufwand für solch ein zweitausendvierhundert Jahre altes Stück werden hier Authentizitäts- und Wahrheitsrituale aneinandergereiht und in Kontrast gesetzt, Aphrodite mit ihrem Plan eröffnet das Stück, Artemis schließt es mit ihrer Verkündung göttlicher Wahrheiten, während Theseus zur Überprüfung, Regulierung und Besonnenheit in der Beweisaufnahme ermahnt wird. Aber auch Phaidras Vorwurf kommt mit Brief und Siegel daher, was die schriftliche Kommunikatoin als ganze in ihrer Beweiskraft in Frage stellt.

Über den personifizierten Gottheiten, deren Handeln von starkem Eigeninteresse gelenkt wird, ruft Hippolytos in seiner unschuldig zum Opfer bestimmten Frömmigkeit die Urgottheit Ananka an, das über- oder unpersönliche Schicksal oder die Notwendigkeit, die geschlechterübergreifend wirksam ist. Auf der untersten Hierarchieebene gesteht er sich die Vergeblichkeit seines Bemühens um Frömmigkeit ein, ohne es jedoch fallen zu lassen. Angesichts des heutigen Wiedererstarkens jungfräulicher, unschuldiger Identitätsentwürfe lässt er sich vielleicht auch als ein mahnende Beispiel begreifen, nicht unter die Räder des eigenen Wagens zu geraten. Nicht vorschnell zu urteilen und zu verwünschen, psychische Krankheiten ernst zu nehmen, Gefühle nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten. Denn auch Phaidra, die rumliegt, magert und die Wände reden hört, stirbt ohne moralische Schuld. Die Scham vor den eigenen Gefühlen, die Projektion der Versuchung durch die Amme allein lassen die einsame, psychotisch-depressive Frau den Tod finden. Ihr falsch anklagender Abschiedsbrief, die einzige handfeste Verfehlung, ist nur ein vorletzter Ausdruck ihres Abdriftens in den Wahnsinn. In diesem Sinne wirkt Phaidra bei Euripides versöhnlicher als anderswo, wenn ihr die berechnende Verdrehung der Tatsachen unterstellt wird, nachdem Hippolytos sie verschmähte.

Sprachlich und dramaturgisch ist die Tragödie ein Fest, bei dem personifizierte Göttinnen und ein sprechender Fastleichnam amüsante Stolperstellen für die Bühnenarbeit errichten. In puncto Vergewaltigung, psychische Krankheiten, Jungfräulichkeit und Schicksal bildet der Text eine wahre Fundgrube an hochklassigem Material, deren Versatzstücke sich bereits weit durch die Theater- und Literaturgeschichte gestreut haben.