Rezension zu Euripides: Die Bakchen

Die Götter müssen verrückt sein

Dionysos ist zur Welt gekommen, nach Theben, um seine eigene Religion zu promoten, die viel mit Weintrinken, Tanzen und Genuss zu tun hat. Der alte Stadterbauer Kadmos ist für den Seher Teiresias ganz Ohr, der ihm von dem neuen Gott verrichtet, und seine drei Töchter Agaue, Ino und Autonoë sind gleich ganz oben dabei im weiblichen Fanclub, den Bakchen, die auf dem Berg Krathäron ihren Gottesdienst feiern.

Einzig Pentheus, Sohn Agaues und amtierender König von Theben, wird mit dem neuen Gott nicht warm, weder in dessen menschlicher Gestalt, die er erstmal in den Kerker werfen lässt, noch mit dem ganzen betrunkenen Festgehabe, welches das Volk aufwiegelt und dessen Arbeitskraft schwächt. Der menschliche Dionysos aber spaziert mit göttlichen Kräften aus dem Kerker heraus und beschließt, an Pentheus noch ein letztes Exempel zu statuieren.

Der Weingott appelliert an Pentheus' Neugier auf dieses Bakchencamp voller lüsterner Frauen in den Bergen und wickelt ihn mit sorgfältig eingeschobenem Expertenwissen ins Netz bzw. in ein Frauenkleid im Bakchenstyle, full drag mit schönen Haaren, Thyrsosstab und entsprechenden Tanzschritten. Der voyeuristische Trip geht nicht gut für den König aus, wie sein zurückgekehrter Diener berichtet: Übereifrieg ließ er sich vom jungen Gott auf einen Baum setzen, wo er sich den Blicken und der Gewalt der aufgestachelten Bakchen ausgesetzt fand.

Die Jagd ist eröffnet, seine eigene Mutter, Agaue, hält ihn in ihrer rauschhaften Verblendung offenbar für einen Löwen, der da vom Baum geschüttelt wurde, enthauptet ihn und verteilt den zerstückelten Körper im Wald. Mit dem Kopf aber marschiert sie nach Theben, um ihrem Vater Kadmos und ihrem Sohn Pentheus den Jagderfolg zu präsentieren. Kadmos aber ist ihr einen Schritt voraus, er hat in der Zwischenzeit die Reste des Enkels eingesammelt und und bringt Agaue zu der schmerzlichen Einsicht, den eigenen Sohn getötet zu haben. Dionysos indessen freut sich, dass sein Plan funktioniert.

Besonders an diesem Stück sind die fliegenden Wortwechsel, in denen die Gesprächspartner*innen vieldeutig aneinander vorbei reden. Immer wieder wird das Nichtbemerken von Offensichtlichem thematisiert, etwa die göttliche Kraft beim Kerkerausbruch und der Baumverbiegung, oder auch die zynische Kommentierung von Pentheus‘ Frauenoutfit durch Dionysos, der den König vor aller Welt als verwei(b/ch)lichten Voyeur ausstellt. Schließlich der Rausch, der Agaue das Sich-zu-erkennen-Geben des Sohnes völlig ignorieren und sie stattdessen seinen Kopf stolz spazieren tragen lässt.

Der Interpretationsspielraum erstaunt, weil beide Seiten sich begründeterweise ihre jeweiligen Verrücktheiten vorwerfen lassen müssen, was zu geradezu slapstickhaften Szenen führt. Ein äußerst anschlussfähiges Stück über Glaube, Meinung, Frauen, Drogen, Fakenews, das nicht nur zeitlos, sondern auch brandaktuell erscheint.

Foto von Boudewijn Huysmans auf Unsplash