Rezension zu Elfriede Jelinek: Lust

Unbeschreiblich

Der Direktor einer Papierfabrik greift auf seine Frau als Allzeit bereites Sexobjekt zu. Diese macht passiv mit oder lässt das in sämtlichen Details ambig geschilderte Spiel doch über sich ergehen. Sie flüchtet sich in Alkoholmissbrauch und eine Liaison mit einem sportlich aktiven Jura-Studenten, der die Erfahrung jedoch als One Night Stand abstempelt und die ältere Frau vor Freund*innen verhöhnt.

Das Kind des Direktorenehepaars entwickelt sich arrogant bis verhaltensgestört und wird mit Medikamenten ruhiggestellt. Als der Mann seine Frau auf einem weiteren Fluchtversuch einholt und sie mit Zuckerbrot und Peitsche, das heißt mit guten Worten und dominant übergriffigem Sex, nach Hause bringt, stülpt die Frau im abflauenden Abendgeschehen dem Kind eine Plastiktüte über den Kopf, erstickt es somit und wirft den Leichnam in einen nahegelegenen winterlichen Gebirgsbach.

Im Zuge dieses Handlungsverlaufs werden zahlreiche Konflikte und Widersprüche ineinander verquickt. Die Dominanzverhältnisse zwischen Mann und Frau, Eltern und Kind, Chef und Angestellten, Mensch und Natur werden bis aufs Letzte ausexerziert und dabei die vermeintlichen Gegensätze etwa animalischer Sexualität zu klassischer Musik unterminiert.

Auch in der Form, welche eine scheinbar willkürliche Aneinanderreihung von Obszönitäten (sexueller und rauschhafter Eskapaden) im Hintergrund mit Versatzstücken von Hölderlin bis Heidegger zu einer vieldeutigen Gesamtheit verfugt, kommt Jelineks Nichteinlassung auf Dichotomien zum Tragen. Die Leserin wird Zeugin, wie auch und gerade in den sogenannten besten Familien hochgradig dysfunktionale Störungen den Alltag durchziehen (können), stellt dabei aber auch die Frage nach deren gleichzeitiger Privilegiertheit gegenüber den um Arbeit und Brot besorgten ärmeren Bevölkerungsschichten.

Mit Klangähnlichkeiten und semantischen Brüchen, durchzogen von einer rabiaten Mischung aus Hoch- und Umgangssprache und einem unerschöpflichen, auf die Sexualität umgemünzten Vokabular ist Jelinek auch hier ein einzigartiges Kunstwerk gelungen, das ihr bis heute niemand nachmachen kann.

Gemälde: Georg Baselitz, Kunsthistorisches Museum Wien.