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Rezension zu Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten

Zwischen Schnee- und Kristallkugel

Auf 668 Seiten in (angeblich) 35 Kapiteln breitet sich dieser Text aus und hinterlässt einen tiefen Eindruck voller Fragezeichen. Mit einer frischen Selbstverständlichkeit springen wir durch Genregrenzen, Medien und physikalische Dimensionen, und doch fügt sich alles zu einem literarischen Meisterwerk zusammen, das seinesgleichen sucht.

Es ist bestimmt alles schon gesagt worden, ein Vierteljahrhundert hat der Text auf dem Buckel, aber dabei an Brisanz fast nur gewonnen. Die Handlung spielt überwiegend in der Pension Alpenrose und ihrer Ausflugsumgebung in der Steiermark, frische Luft und große Wälder und ein paar Kirchen; einige kleinere Episoden finden darüber hinaus in Wien statt. Die drei Hauptfiguren werden allesamt als (Un-)Tote eingeführt. Gudrun Bichler, Studentin, schneidet sich in der Badewanne die Pulsadern auf, Edgar Gstranz, zunächst Sportler, erliegt einem seiner Trunkenheit geschuldeten Autounfall und Karin Frenzel, eine in die Jahre gekommen Tochter, die sich nicht von ihrer Mutter lösen kann, kommt bei einem Verkehrsunglück auf einem schmalen, beschädigten Alpenpass ums Leben.

Ohne viele Worte der Aufregung darum zu machen, berichtet die Erzählerin in wechselnden Tonlagen, die sich alle durch eine glänzende Ignoranz gegenüber Gewohnheiten und Erwartungshaltungen auszeichnen, von den Todesfällen und dem Weiterleben der Figuren, das sich relativ zombiehaft, aber auch mit viel Sex und Spaß vollzieht. Körperflüssigkeiten spritzen, Körperteile fliegen, aber alles ergibt eher eine Art Fest, dessen Regeln man sich nur langsam aus wiederholten Beobachtungen und recherchierten Querbezügen zur frühchristlichen Gnosis, zur griechischen Mythologie, zu Waidmannsgarn, Sportikonen und dem Musikantenstadl erschließen kann.

Science-fiction/fantasyartige Szenen ereignen sich mit Krümmungen von Raum und Zeit, Tote kriechen aus den Wänden und wachsen aus dem Boden, aber der Bericht verzichtet auf jegliche Ursachenforschung und nimmt Doppelgängertum wie Eucharistie unwidersprochen hin. In das Gemenge der Toten mischen sich Opfer und Täter des Naziregimes, während Edgar Gstranz mit einer Fülle zaghafter Andeutungen von politischer Aktivität und sportlichen Ambitionen weitläufig an Jörg Haider erinnert, selbst wenn von Politik im engeren Sinn gar nicht die Rede ist. Das Visionäre der Prophezeiung der Todesumstände, die den FPÖ-Politiker 14 Jahre nach diesem Text mit erstaunlicher Übereinstimmung ereilen sollten, kann der Leserin geradezu den Atem verschlagen.

In immer neuen, überraschenden Anläufen kommt eine gewaltige Schlammlawine ins Rollen, die auf allen Handlungsebenen die Handlungsfähigkeit unter sich begräbt. Durch Jahrtausende grassierender, anhaltender Antisemitismus ist dabei ebenso eingebunden wie persönliche Tragödien und der Komplex Natur-Kultur, der damals eigentlich auch schon die heutigen Klimadebatten vorwegnimmt. Fast drei Wochen kostete mich die Lektüre, aber damit bin ich dem ausschweifenden Text recht nahe gekommen, und ich finde keine Worte, um meinen Gewinn auszudrücken. So so viel gibt es zu lernen über Rhythmus, Philosophie, Mythologie, Christentum und die Alpen, und wie nebenbei macht die unberechenbare Kombinationsfreude Jelineks einfach den größten Spaß.

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