Rezension zu Elfriede Jelinek: Der Tod und das Mädchen V (Die Wand)

Man kann nicht alles verstehen

Es gibt so viele Ebenen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Eine gewisse Schwierigkeit bereitet die scheinbare Disparatheit der Details. Vielleicht gehen wir mal vom Mythos aus, der auch das Handeln auf der Bühne, also die Regieanweisungen, mit Hintergrund füllt.

Der Text bewegt sich in der Sphäre der Hesiodschen Theogonie, an deren Ursprung Gaia und Uranos stehen, muss man das alles erklären?, Himmel und Erde, jedenfalls ist Uranos ein schlechter Vater, auch das Patriarchat in Person, und seine Kinder verschwören sich, ihn zu entmannen, wie Khronos es dann auch ausführt. Aus dem weggeworfenen Genital sprossen die Erinnyen, die Meliaden und die Giganten, also ein ganz schön großer Dienst für die Tragödiengeschichte und die Welt der Frau (den Feminismus? War Uranos ein Vergewaltiger?).

Geschickt zerrupft und benutzt Jelinek die Versatzstücke des Mythos, auf der Bühne lässt sie entsprechend Sylvia und Inge (deren Namensebene kommt erst noch) einen Widder entmannen und in bester Seherinnenmanier eine Blutsuppe aus ihm quetschen und matschen, die im zweiten Akt dann auch spielerisch verzehrt wird. Diese „sehr hübsche hausfrauliche Tätigkeit“ fügt sich mit dem theogonischen Hintergrundwissen zu einem eingängigen (materialistischen?) Gesamtbild gegen das männliche Prinzip.

Die dazwischen gestellten Textgrundstücke, nicht ganz so unbegrenzt wie die später von Jelinek entworfenen Textflächen, aber doch bereits irgendwie offen im Raum stehend, stehen zu diesem Bild in erklärtem, aber kaum zu erläuterndem Kontrast. Sie mäandern durch schriftstellerische Tätigkeit, Liebe, Haushalt und Popkultur, wiegen sich auf und ab mit Selbstmordgedanken und der verzweifelten Suche nach einem „Papi“, „Therese“ und „Marlen“.

Durchädert von den Schatten der Theogonie kreist der Text um eine unsichtbare Wand, häufige Ebenenwechsel und Bedeutungsverschiebungen machen den Inhalt ungreifbar, unbegreiflich, die Recherchemöglichkeiten sind mit weiblichen Vornamen und möglichen Todesarten und biographischen Details begrenzt, aber man kommt schon auf Fährten: Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann, Marlene Dietrich, Therese Giehse, starke, leidende Künstlerinnen, die mit ihrem Schreiben, Leben, aber auch mit Suchterkrankungen und Selbstmorden durch die Oberfläche schimmern.

Ein blühendes intertextuelles Feld für die Literaturwissenschaften, aber mit den feinen, persönlichen Verästelungen scheinen endgültige Deutungsversuche zum Scheitern verurteilt. Aber sowas gehörte ja auch dem männlichen Prinzip an, gegen das der materialistische Rahmen die Sichel schwingt. Auf den Textgrundstücken dagegen, so ließe sich vielleicht sagen, wachsen die dahingefallenen Samen.

Foto von Jen Theodore auf Unsplash