Rezension zu : Das Gilgamesch-Epos

Eigentlich ein postmodernes Werk

Gilgamesch ist irgendwie das älteste und größte erhalten gebliebene Epos der Geschichte und besticht sowohl durch sein sozial-anthropologisches Fundament als auch die weitreichenden mythologischen Verästelungen durch die Geschichte.

Gilgamesch: Sohn der Tochter König Enmekars, uneheliches Niemandskind, auserkoren, die Herrschaft an sich zu reißen, vom Adler gerettet und von einem Palmgärtner erzogen, aber eigentlich, das heißt zu zwei Dritteln, Götterkind. Nun gut, jedenfalls hat er eine schöne Mauer gebaut und ist jetzt König von Uruk, aber die Macht ist ihm zu Kopf gestiegen: Er trotzt dem Volke, lässt den Sohn nicht zum Vater und die Jungfrau nicht zum Geliebten, deshalb beten diese, es möge ihm ein Ebenbild geschaffen werden, mit dem er seinen Spaß haben kann, statt die ganze Stadt mit seiner anstrengenden Trommel wachzuhalten. Ein paar Götter (es gibt so viele, aber ihr Verhältnis bleibt unklar) schaffen daher Enkidu, mit wallendem Haar, mit dem Wild an der Tränke, mit den Gazellen frisst er das Gras, ein richtiger Naturbursche. Um diesen dem König anzueignen, ihn zum Menschen zu machen, wird er vom Jäger, der ihn entdeckt, mit einer Dirne verkuppelt, welche Enkidu eine Woche lang beschläft, bis diese ihn anschließend zum Kräftemessen mit Gilgamesch in der Stadt und einem fesselnden Ehevertrag auffordert.

Als Gilgamesch seinen Gepflogenheiten entsprechend eintrifft, um sein Recht der ersten Nacht zu beanspruchen, kommt es zu einer Wände erschütternden körperlichen Auseinandersetzung, in deren Folge (Textteile fehlen) die beiden Männer sich küssen und Freundschaft schließen. Eine bärige Homolovestory bahnt sich an mit allerlei Ausflügen und Abenteuern, zunächst wollen sie den reckenhaften Chumbaba umbringen und dessen Zedernwald abholzen, eine Art Klein(garten)krieg mit Waffen und Rüstung und Mannen und Marsch. Immer wieder befallen den Helden Träume von Göttern und sonstige psychotische Ideen, aber gemeinsam schlagen sie sich durch alle Widrigkeiten. Am Wald angekommen bezwingen sie fragmentarisch den Wächter des Waldes, fällen die zentrale Oberzeder und widerstehen sowohl dem furchterregenden Drohen Chumbabas als auch dessen Flehen. Gilgamesch hält ihn fest, Enkidu schlägt ihm den Kopf ab.

Bei der siegreichen Rückkehr wirft sich dem Titelhelden die Schönheitsgöttin Ischtar an den Hals, will ihn heiraten und alles, der aber beginnt aus dem Nichts mit einer promiskuitätsfeindlichen Schimpftirade, bezichtigt die Göttin der Untreue und des Betrugs. Aufbrausend vor Scham reklamiert diese daraufhin von ihrem Vater, Obergott Anu, die rachemäßige Aussendung des Himmelsstiers, um die Stadt Uruk zu verwüsten. Das Heldenpaar allerdings bedankt sich herzlich und schlachtet das himmlische Rindvieh mit wenigen Handgriffen. Nach dem Fest aber mischen sich weitere Götter ein und beschließen den Tod Enkidus durch eine quälende Krankheit, die ihn wie eine Vergiftung durch die Inhaltsstoffe der gefällten Zedernhölzer dahinrafft (er redet mit der Tür). Noch einmal verflucht er die Dirne, hat Visionen von Adlern, Schlangen und Löwen, bis er endgültig stirbt.

Gilgamesch trauert eine ganze Tafel lang, dann macht er sich auf den Weg zu Utnapischtim in die Unterwelt, um irgendwie in Kontakt mit dem Toten zu bleiben oder wenigstens seine eigene Depression mit dem Unternehmen zu besänftigen. Vorbei an Skorpionmenschen gelangt er durch einen langen Tunnel zu einem Edelsteinwald, klagt der Schenkin seine Heldentaten und sein Leid, zerschmettert die Steinernen, Ruder des Totenschiffs, setzt aber mit Hilfe des Fährmanns doch über das windstille Wasser mit einer gefällten Baumstange pro Ruderzug, die dabei gleich verdorrt. Gilgamesch berichtet von der Trauer um den verlorenen Freund und setzt zur Therapie und zur Frage nach dem Sinn des Lebens an, der Freund wurde von Würmern gefressen, werden wir das nicht alle?

Utnapischtim empfiehlt, anderen etwas Gutes zu tun, dann berichtet er von der eigenen Gottwerdung: Enlil plante eine Sintflut, Ea warnte Utnapischtim und veranlasste den Bau einer Arche, auf der dieser sich, seine Familie und allerlei Lebenssamen rettete. Ohne den Rest der Menschheit aber verloren auch die Götter an Kraft, waren sie doch auf Opfer und Gläubige angewiesen, um in ihrer Existenz zu bestehen. Ausgezehrt und halbtot wird also die gesamte Götterwelt vom ersten Opfer des Arche-Führers angezogen und labt sich daran, einen Groll gegen den Sintflutstifter hegend. Enlil, von den anderen Göttern zur Mäßigung aufgerufen, gewährte damals Utnapischtim und seiner Frau also den Götterstatus. Gilgamesch aber wird in einen einwöchigen Schlaf versetzt und nach Hause geschickt, der Fährmann allein gibt ihm noch ein Kraut der ewigen Jugend mit.

Das Epos schließt mit der zwölften Tafel, einer Art Anhang, in dem Enkidu wieder lebt, Gilgamesch seine Trommel verloren hat und der Freund/Diener deswegen in die Unterwelt reist. Enkidu Missachtet auf diesem Trip sämtliche Empfehlungen des auswärtigen Amtes für den Unterweltbesuch, da wird er von der Erde gepackt und kommt nie wieder. Schließlich verliert sich der Bericht in einem simplem Frage-und-Antwort-Spiel zu nicht wirklich identifizierbaren Figuren, welchen Enkidu in der Unterwelt begegnet ist.

Die Fülle und Disparatheit der Ereignisse auf einer Vielzahl von Handlungssträngen in Kombination mit den lakonischen Übersetzerkommentaren und den aus verschiedenen Quellen zusammengeschusterten Textfragmenten verleiht dem Epos eine dekonstruktive Qualität. Die Dichotomien Mensch – Tier, Mensch – Gott, Leben – Tod werden in chimärenhafte Trug- und Doppelbilder zusammengeschmolzen, ohne Zögern werden Mythologie und Psychologie miteinander verknüpft, statt einer großen Erzählung begegnen wir einer teils widersprüchlichen Vielzahl von Ereignishorizonten, die um das schwarze Loch von Einsamkeit und Depression kreisen. Insofern wage ich, in diesem ersten aller Epen überhaupt bereits die Postmoderne am Werk zu sehen.

Foto von Mandy Choi auf Unsplash