Rezension zu Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

Hintertüren und Geheimnisse

Es ist nicht einfach, eine Rezension zu schreiben über einen ganzen Band voller Erzählungen eines Autors, der hier in schillernden Farben seine breite Palette unterschiedlicher Formen präsentiert. Die Erzählstimmen wechseln von der subjektiv verbundenen Teilhabe an kriselnden bis befreienden BDSM-Beziehungen über neutrale Beobachtung des Menschentieres in seinem sozialen Habitat bis zur wissenschaftlichen Recherchearbeit im Archiv oder auf dem Kongress mit konfligierenden Expert*innenmeinungen. Gerade in dieser Vielfalt liegt die Stärke des Bandes, jeder Text überrascht mit neuen Stimmen und Umgebungen, aber alle sind ausgesprochen aufmerksam komponiert und legen die stilistische Latte sehr hoch.

In die Erinnerung gebrannt haben sich Szenen sexueller Gewalt und deren Vorspiel, die submissive Frau, die sich ihren eigenen Sklavenkäfig besorgt und ihren skeptischen Mann so lange mit ihrem Fetisch nervt, bis dieser mehr aus Widerwillen als aus eigenem Antrieb seine dominante Rolle gar nicht spielt, sondern vielmehr ohne jedes Konsensverständnis dann eben doch einen regelrechten Hass auslebt. Oder das im Sadismus wiedervereinte Exehepaar, das sich an der Grenzüberschreitung, erst gegenüber einer Prostituierten, dann als Königsdisziplin gegenüber der minderjährigen Tochter des übermäßig protektiven alleinerziehenden Nachbarvaters, aufgeilt.

Aber eigentlich sind es weniger die Schockmomente, die mich in den Bann ziehen, als vielmehr die ungelösten Geheimnisse, die die Geschichten vorantreiben. Die Faszination einer antik anmutenden Münzwaage, die plötzlich im Hinterhof neben den Mülltonnen auftaucht und die Sozialität der Nachbarschaft in düstere Bewegung bringt. Das geheime Level im ersten Computerspiel, das man Kunst nennen muss, ein ganzer von Setz erfundener akademischer Diskurs, und die daran geknüpfte Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Leben, künstlicher Intelligenz und Tod.

Schließlich ist da noch die Erzählung über das Archiv, in dem die Werke der Figur Setz aufbewahrt werden, wobei das Archiv jedoch schließen wird, für immer. Der Archivar offenbart der letzten Besucherin eine Hintertür, und dahinter sitzt: Der Autor selbst, lebend, schreibend, aber doch: nur noch ein Ausstellungsstück.

Jetzt habe ich gar nichts zur titelgebenden Geschichte über das Mahlstädter Kind gesagt, aber doch steckt alles bisher Erwähnte darin. Nur eben anders, in seiner Verfremdung genau, geheimnisvoll. Ein gutes Buch, auch wenn ich mich etwas anstrengen muss, nicht die ganze Zeit über Genderkram nachzudenken. Wird das eigentlich diskutiert? Es ist doch seltsam, wie oft und wie leicht das politische Bewusstsein an der Kunst scheitert. Oder andersrum.