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Rezension zu Christoh Schlingensief: Die 120 Tage von Bottrop

Als das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion noch normalgestört war

Ein kleines Who is who der deutschen Film- und Theatergeschichte fährt Christoph Schlingensief in diesem letzten Neuen Deutschen Film auf, Margit Carstensen und Irm Hermann geben die Grande Dames, Helmut Berger und Udo Kier sind irgendwie hineingeraten, Volker Spengler, Sophie Rois, Martin Wuttke treiben das Geschehen voran.

Metareflexiv behandelt der Film seine eigene Entstehung, ein junger, exzentrischer Regisseur mit Fassbinderlederjacke, -schnäuzer und -allüren, gespielt von Mario Garzaner aus Schlingensiefs Behindertenprojekten, findet sich in eine chaotische Produktionsumgebung mit zusammengewürfeltem Cast aus lauter Egomanen geworfen.

In schnellen Schnitten springen wir durch die Filmgeschichte, da werden Schwänze gelutscht und nackte Menschenhorden durchs Bild gepeitscht, während ein kaum zu entwirrender Wust szenischer Vor- und Nachbilder über die Leinwand rattert. Wir sehen Christoph Schlingensief, gespielt von Martin Wuttke, mit Dornenkrone an seinem Werk verzweifeln und dem Selbstmord zugewandt, aber auch einen Agenten, gespielt von Christoph Schlingensief, der in LA einem Kontakt zu Helmut Berger und Roland Emmerich nachjagt, der von den anderen Schauspieler*innen des Subfilms bereits sehnsüchtig erwartet wird, vom Produzenten ganz zu schweigen.

Stilsicher gelingt es währenddessen auf der Metaebene, die vierte Wand zu durchbrechen und zugleich den Durchbruch selbst in Frage zu stellen, mal werden schlecht gefertigte Figurenkörper theatralisch aus dem Fenster geworfen, dann wieder zeigen echte Outtakes, insbesondere im Zusammenspiel mit Garzaner, wie einzelne Schauspieler*innen aus der Rolle fallen, sich ein unpassendes Lächeln oder eine vermeintlich wahre Genervtheit in ihre Gesichter schreibt. Durch die Ansammlung von Ikonen, die sich selbst spielen, wie sie wiederum völlig absurde, unzusammenhängende Rollen im Subfilm übernehmen, entsteht ein glänzendes Vexierspiel, das die Wahrnehmung der getripelten Realitätsebenen permanent verwischt. Vollkommen gleichzeitig kann ich mich als Zuschauer sowohl einem verrückten Kunstprodukt gegenüber verorten als auch mit einer wahrscheinlich relativ wirklichkeitsnahen Beschreibung der Entstehung ebendieses Films, den ich da sehe, identifizieren.

Gerahmt in einer Originalaufzeichnung des Deutschen Fernsehpreises gelingt es Schlingensief, uns immer wieder von neuem den sicher geglaubten Boden unter den Füßen wegzuziehen. Gemessen daran, wie heute, dreiundzwanzig Jahre später, die Künste nur noch einer Wirklichkeit hinterherwanken, die ihrerseits jedes Fundament von Wahrheit, Ordnung und Notwendigkeit verloren hat, lässt sich die produktive Kraft und Kreativität dieses Films gar nicht hoch genug schätzen. Es ist eine Wohltat, sich nach dem Abspann nicht einbilden zu können, man hätte jetzt aber wirklich alles verstanden.

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