Rezension zu Christa Wolf: Medea. Stimmen
Beinahe versöhnlich
Überraschend bürgernah kommt Christa Wolfs Behandlung des Medea-Stoffs aus der Mitter der 90er Jahre daher. Die Stimmen treten keineswegs als erinnysch dissoziativ-psychotisches Gewirr in Erscheinung, sondern vielmehr in Form einer geradezu nüchternen Reportage, die das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. In elf Wortmeldungen schildern Medea, Jason, Agameda (Medeas ehemalige Schülerin), Akamas (Kreons erster Astronom), Leukon (Kreons zweiter Astronom) und Glauke ihre Eindrücke, wobei die althergebrachten Konfliktlinien mit behutsamer Präzision und dramaturgischem Feingefühl adjustiert werden.
Statt einer irrationalen eifersüchtigen Furie wird Medea hier als fürsorgliche und stolze Heilerin präsentiert, die mit tiefem psychologischen Verständnis in einem Spannungsfeld aus sich wiederholenden Double-bind-Situationen agiert. Der ganze Mythos wird dabei erstaunlich plausibel gemacht, ihr Vater Aietes klammert sich frauenfeindlich an die Macht, wobei ihr Bruder als minderjähriger Thronfolger einen jähen Tod findet; sie ist nicht blind verliebt in Jason, aber kann das intrigante Gehabe auf Kolchis auch nicht hinnehmen. Die ganze Argonautenfahrt und das Vließ erweist sich als ziemlich sinnlos, während sich vor unseren Augen eher eine Refugee-Rettunsaktion über das Mittelmeer entfaltet.
Angekommen in Korinth sind es genau diese Armut und das Nicht-Dazugehören, die als lösbare Probleme auftreten, die Positionen bilden sehr differenziert selbst noch die Debatten der jüngsten Flüchtlingskrise nach, dumme Nazis sind eher die Ausnahme, aber die politischen Diskurse um Anerkennung und Schuldfragen bieten großen Spielraum für Konflikte. Korinth, so zeichnet sich in langsamer Steigerung ab, besitzt zwar mehr Wohlstand und Luxus als Kolchis, unterliegt aber auch einer blinden Selbstbeweihräucherung, die nur mit Verblendung und Verdrängung die Erinnerung an wacklige Momente der Zivilisationsgeschichte tilgt.
Kreons Frau lebt zurückgezogen, für verrückt erklärt im hintersten Teil des Palastes, Glauke wird regelmäßig von Panikattacken oder epileptischen Anfällen heimgesucht. Völlig rational, nur von Blinden als Zauberei verschrieben, geht Medea den Spuren der Zersetzung nach. Sie startet eine analytische Psychotherapie mit Glauke und folgt der geistig abwesenden Merope in ein verstecktes Kellergeschoss, wo sie ein Kinderskelett findet. Mit detektivischem Spürsinn wird die Gründung von Kreons Herrschaft (bzw. ihr Erhalt) auf das Menschenopfer seiner erstgeborenen Tochter Iphinoe verifiziert, das im Geheimen vollzogen worden war, während dem Volk eine Entführung zu Liebeszwecken eingebläut wurde. Ein „diplomatisches“ Spiel mit falschen Anklagen, Bedrohungen, Verrat und Mord nimmt seinen Lauf, während zugleich auch noch ein Erdbeben und die Pest einschlagen.
Gegen die lügengesteuerte, rassistische, populistische Aufwiegelei hilft alle Wahrheit und Unschuld Medeas nichts. Ihre klassischen Taten, Brudermord und Kindermord, werden ihr allesamt angehängt von einem korrupten Regime, das mit ihr als Sündenbock von den eigenen Missetaten ablenkt – und das erfolgreich, schon seit über 3000 Jahren. Obwohl meine persönlichen Sympathien sehr klar sind, liefert Wolf allerdings ein derart differenziertes Bild, das auch die Motivationen Kreons, Akamas‘ und Agamedas greifbar werden lässt und den dilemmatischen Charakter politischer Führung offenlegt. Ein wichtiger Schritt für Medea, der auch in Zeiten von Flüchtlingskrise, Identitätspolitik und Trump nichts von seiner Brisanz einbüßt.
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Verfasst am 25.01.20.