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Rezension zu Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik

Phantasien aus dem Atomzeitalter

Wir schreiben das Jahr 2009 oder früher in einer Welt, die die atomare Apokalypse erstaunlich gut verkraftet hat. In einem kurzen Vorwort klärt der fiktive Übersetzer, der sich nebenbei als Hinweisgeber und Sittenapostel in Fußnoten verdingt, über die großflächige Zerstrahlung Zentraleuropas, insbesondere Deutschlands, sowie des mittleren Westens der USA, auf. Der Ursprungstext aber ist ein Reisebericht des nordamerikanischen (kanadischen?) Reporters Charles Henry Winer, dem die seltene Ehre zuteil wird, sowohl dem abgeriegelten amerikanischen Streifen als auch der sogenannten Gelehrtenrepublik, einer schwimmenden Insel des Weltstaatenverbunds, auf der sich die internationale Exzellenz aus Wissenschaften und Künsten versammelt, einen Besuch abstatten zu dürfen.

Mit viel Witz und Detail lotet Schmidt die Abgründe der Menschheit aus, die die gelehrte Utopie nicht weniger zerfurchen als die zerstrahlte Dystopie. Die „Zone“ präsentiert sich als militärisches Sperrgebiet, eine dicke, hohe Mauer säumt eine unwirtliche Wüstenlandschaft, die Militärs begegnen dem ungeliebten Besuch mit Schikanen und heimtückischer Freundlichkeit. Durch gezielte Desinformation und Manipulation der Ausrüstungsgegenstände (Kompass, Wasserflasche) wird ein tödlicher „Unfall“ Winers nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern regelrecht heraufbeschworen. Mit der Hilfe seines freundlicher gesonnenen Aufpassers und der für Arno Schmidt charakteristischen Beflissenheit in astronomischen und geologischen Belangen gelingt es Winer jedoch, der Falle zu entgehen und sich ein eigenes Bild der Lage zu machen.

In der Zone treten drei (semi)menschliche Mutationen auf: Zentauren (gut), Spinnenmenschen (böse), fliegende Köpfe (neutral). Die Reise verläuft recht abenteuerlich (Karl May), Winer begegnet und begattet erstmal ein(em) Zentraurenmädchen, heilt dann ein von den Spinnenmenschen (Never-Nevers) vergiftetes Jungtiermenschenkind mit Fin und beteiligt sich an der Ausrottung/Ausräucherung einer Kolonie der (doch gar nicht „hexapoden“?!) Bösewichte. Am Ausgang kommt er dann noch mit der Ratio des Gebiets in Kontakt, die auf die Herausbildung superathletischer Kämpfernaturen und sexueller Versuchungen/Befriedigungen (fliegende, dumme, saugende Köpfe, den Schönheitsidealen der Jahrtausende nachgezüchtet) hinausläuft.

Der anschließende Trip durch die Gelehrtenrepublik mutete dagegen zunächst (schön)geistig, zivil(isiert) und hochkulturell an. 811 internationale Genies haben hier eine Heimat gefunden, die mit großzügigen Archiven/Bibliotheken, Material, Arbeitsplätzen, Theater und einem allseits besorgten Alltag aufwartet. Beste Bedingungen also für weltbewegenden Fortschritt? Nicht ganz. Der kalte Krieg durchzieht als Backbord-Steuerbord-Konflikt die Insel, die Schriftsteller nutzen die Bibliothek nicht (West) oder schreiben im Akkord (Ost), die Künstler werden weltfremd, faul und eigensinnig. Die Wissenschaftler indessen setzen alles daran, das Leben zu verlängern, und greifen mit Gehirntransplantation und Hibernation zu entmenschlichenden Methoden. Winer jedenfalls ist reichlich enttäuscht von seinem 50-stündigen Aufenthalt und bemerkt selbst, dass die bewegendste Erfahrung seiner Reise wohl der Akt mit der Zentaurin war.

Schade eigentlich, dass das auch für die Leserin zutrifft: Dieses Buch mit abertausenden, kunstvoll arrangierten Querverweisen durch die gesamte Kunst-, Wissenschafts- und Mythologie-, ja auch Sprachgeschichte und ‑zukunft, mit seinem ebenso analytischen wie ironischen Blick auf die Entwicklungen der Welt nach dem zweiten Weltkrieg, wird wohl doch abgespeichert als das Buch, in dem der Held die Zentaurin fickt. Den Band, mit dessen Vorhandensein Winer die Qualität der republikanischen Bibliothek ermittelt, es gäbe Weltweit nur noch fünf Exemplare, habe ich mal in eine Antiquariatssuchmaschine eingegeben: Es gibt einen Reprint, aber sie können auch ein Original kaufen für 3000 Euro. Heute, zehn Jahre nach Winers Gelehrtenrepublik, haben sich die Ansprüche und Verfügbarkeiten der Welt doch noch einmal spürbar verändert. Aber genutzt werden die Errungenschaften wohl genau so wenig.

Geschrieben 2019.

Foto von Valdemaras D. auf Unsplash

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