Rezension zu Arno Schmidt: Aus julianischen Tagen. Teil 3: Sylvie & Bruno, Berechnungen I+II
Maßnehmen am Denken
Ein Text, der Lewis Carroll zu Begründer der Neuzeit oder doch der literarischen Moderne macht und zwei aufrechte Versuche einer Art Poetik, einer Methode des Schreibens, schließen diesen seltsam zusammengewürfelten Band ab. Ich in froh, in annehmbarer Zeit durchgekommen zu sein, und verwundert, dass es offenbar bereits der mindestens zweite Durchlauf gewesen ist. Erstaunlich auch: Ich musste zwar vieles nachschlagen, hatte aber doch durchgängig das Gefühl, so halbwegs dem Inhalt folgen zu können (obwohl ich keinen einzigen der referierten Texte kenne).
Schmidt jedenfalls entdeckt in Carroll einen Vorläufer des „längeren Gedankenspiels“, das er für den zentralen Wendepunkt von einer „alten“, an die mündliche Erzählform oder das Briefeschreiben angelehnten Literatur hin zu einer „neuen“ begreift, die das Unbewusste entdeckt und folglich nicht nur auf einer objektiven Realitäts- und Erlebnisebene funktioniert, sondern daneben eine subjektive Realität, nunja, beschreibt, einbindet, ausdrückt. Kennzeichen dieser zweiten Ebene sind Mehrdeutigkeiten, wie sie, und das scheint Schmidt zu überraschen, in der Carrollschen Wortakrobatik paradigmatisch entwickelt werden.
Die Dreh- und Angelpunkte heißen für Schmidt: a) Prosa, b) Langsamkeit im Schreibprozess, c) ein vielschichtiges Verhältnis zur Sprache und d) eine Prämisse seiner Arbeit, die Offenheit und Unabgeschlossenheit der Form, d. h. der Anordnung des Textes im Raum. Ihm geht es darum, subjektive Prozesse wie Erinnerung, Gedankenspiel oder Traum als objektive Bewusstseinstatsachen zu beschreiben. Dazu entwickelt er in diesen drei Texten die Aufteilung der Seite in zwei Spalten, die den Bereich der beiden Erlebnisebenen aufteilen sollen, er erprobt an Carroll und seinen eigenen bisherigen Werken eine Technik, eine Haltung, in der sich die Anlage zu Zettels Traum bereits niederschlägt (das ich natürlich auch nicht gelesen habe, aber ich hörte, es sei sogar in drei Spalten aufgeteilt, plus Kommentare, huiui).
Nun, es handelt sich dabei sicherlich um ein ganz fabelhaftes System, und der gute Mann hat sichtlich den ein oder anderen Gedanken auf dessen Vervollkommnung verwendet. Man will ihm alles glauben, aber irgendwas quält mich dann doch. Ist es die objektive Subjektivität? Als Nach-Nachgeborener leuchtet mir der klare Trennstrich der Ebenen nicht mehr ein, an jedem Wort pappt doch noch das Diabolische (ich weiß nicht, wie man „unbewusst“ genau verwenden darf) und Freud liegt tief begraben mit seinen zwei, drei Ebenen in den Tausend Plateaus.
Ecce, Arno!, mag ich rufen, wenn er mir noch einmal von seinen Schriftstellerschulen erzählt und sich ans Subjekt festklammert und an die Physik. Aber Spott kann den Toten schwerlich treffen, unsern letzten Universalgelehrten, dessen Weisheit, Position und Witz doch stark vermisst wird. Die Selbstsicherheit, mit der er den Nobelpreis in die unterste Schublade kategorisiert und sich auch durch Willi Brandt nicht zu Deutschland bekehren lässt, weckt jedenfalls Wonne in meinem Herzen.
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Foto von Elisa Michelet auf Unsplash